Aus Nichts kann man soviel machen

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„Oh, dear!“ sagte Stellas Großmutter Josephine, als sie die Überreste der blauen Satindecke sah. „Das Erbstück meiner Großmutter.„ „Mama“ sagte Isabel, „das ganze tut mir wirklich sehr leid, aber so was passiert eben, wenn man einem Kind ein Erbstück aus Seidensatin schenkt. Was, um Himmels willen, hast du dir nur dabei gedacht?„ Josephine warf ihrer Tochter einen vernichtenden Blick zu. „Das, meine Liebe, wirst du wohl selbst herausfinden müssen.„ Isabel seufzte: Die Decke war schon alt und verfleckt, als du sie Stella geschenkt hast. Jetzt ist sie zerrissen dazu. Wirf sie weg.“ „Ich will meine Decke wieder“ protestierte Stella. „Lass mal sehen“ sagte Josephine ruhig. „Mama, aus nichts kann man nichts machen“ sagte Isabel. „Wenn ihr mich fragt“, meinte Josephine schließlich, „ist noch genügend Stoff übrig, um etwas Neues daraus zu machen.“

Josephine, Isabel und Stella. Drei Frauen die unterschiedlicher nicht sein können und dennoch zu einer Familie gehören. Einer Familie die seit Generationen ein blaues Stück Satinstoff im Besitz hat, das von einem goldenen Faden zusammengenäht gleichsam auch die Geschichte der Familie zusammenhält. Ein Stück Stoff, als Wandbehang gefertigt von einer Mutter für ihre einzige Tochter, die 1919 von Russland ins ferne Berlin geht um zu heiraten. Auf der Reise geht der kostbare Stoff verloren, findet aber auf wundersame Weite wieder den Weg zu seiner Besitzerin. Wandelt sich im Lauf der Jahre, wird vom Wandbehang zu einer Gardine, dann zur Tischdecke, bis er schließlich als Schmusedecke bei der kleinen Stella landet. Am Abend des Tages als streunende Hunde die Decke bei ihrem wilden Spiel zerfetzt haben, erzählt Großmutter Josephine der kaum vierjährigen die Geschichte dieses Erbstückes. So wird der Zeitraum von 1919 bis heute geschichtlich und aus familiärer Sicht anschaulich beschrieben.

Es ist die Art wie Holly-Jane Rahlens erzählt, die mir besonders gut gefallen hat. Zum einen wird der eingangs zitierte Wortwechsel immer dann wiederholt, wenn dem Stoff aufgrund von Stellas Unachtsamkeit ein „Unheil“ widerfahren ist. Jedes Mal begutachtet die Großmutter die Überreste und findet immer einen Weg „aus Nichts“ doch wieder etwas zu machen. Aus der Schmusedecke wird ein Kleid. Aus dem Kleid eine Weste. Aus der Weste wird ein kleiner Beutel. Bis am Ende nur noch der goldene Faden bleibt.

Dieser goldene Faden ist es, der in der Handlung den roten Faden ersetzt und im Nachwort der Autorin „als eine Art Orientierungshilfe verstanden wird, mit dem man den Weg zu sich selbst wiederfindet“. Was am Ende auch die nüchterne Isabel begreifen lässt um was es im Leben wirklich geht. Sie ist es dann auch, die aus dem letzten Rest des Erbstückes etwas dauerhaft Neues schafft.

„Stella Menzel und der goldene Faden“ ist ein regelrechtes Kleinod. Angefangen bei der ansprechenden Ausstattung. Cover und Illustrationen, Leinenrücken und der goldene Faden der sich durch das ganze Buch zieht. Hier vereinen sich Text und Bild aufs harmonischste. Alles passt zusammen bei diesem, in jeder Hinsicht, wertvollen Kinderbuch.

Holly-Jane Rahlens hat nicht nur über ein Erbstück geschrieben. Sie hat eines geschaffen. Ein Buch für Mädchen und Frauen. Großmütter, Mütter und Töchter. Der Verlag empfiehlt es von 9 bis 11 Jahren. Diese Obergrenze braucht es aber nicht. Ich habe es gerne gelesen und werde es im Rahmen meiner Lesepatentätigkeit auch vorlesen. Meine Tochter mit 12 Jahren hat es begeistert und unsere Oma, mit über siebzig, auch. Dieses Buch bleibt in der Familie. Hoffentlich nicht nur in unserer.