Das Leben bei den Minen

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lilibeth2311 Avatar

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Nachdem mir “Eisige Schwestern” von S. K. Tremayne nicht den Atem verschlagen, aber doch gut gefallen hatte, habe ich mich sehr gefreut, dass ich „Stiefkind“ bei Vorablesen gewonnen habe.

Rachel ist zu ihrem Frischangetrauten, David Kerthen, von London hinaus nach Cornwall gezogen. In das Herrenhaus Carnhallow, das seit über tausend Jahren von den Kerthens bewohnt wird. Es heißt, die Vorfahren ließen sich genau dort nieder, weil sie hellsichtig war: Sie sahen, dass den rauen Felsen in Zukunft Mineralien entlockt werden können. Die errichteten Minen brachten der Familie Reichtum und nahm David seine erste Frau. Doch stimmen die Legenden über die Familie? Waren sie hellsichtig? Denn wenn das stimmt, kann der junge Jamie dann seiner neuen Stiefmutter die Zukunft voraussagen? Kann er vorhersehen, dass sie an Weihnachten tot sein wird?

„Stiefkind“ nimmt sich Zeit. Vor allem in der erste Hälfte wird viel Wert auf die Beschreibung der Landschaft gelegt, auf die Beschreibung der neuen Familie, auf die Beschreibungen von Nina Kerthen, Davids erste Frau. Während die Verhältnisse innerhalb der Familie durchaus interessant waren, wiederholte sich die Landschaft permanent. Es gab keinen Felsen, keine Mine, keine Welle, die nicht schon ein paar Seiten weiter vorn beschrieben worden war.
Die erste Hälfte des Buches entfaltet sich dementsprechend langsam. Es ist nicht so, dass der Teil langweilig oder zäh wäre, aber er war eben auch nicht so nervenkitzelig, wie er hätte sein können.

Dafür holten mich der Nerkenkitzel und die Aufregung in der zweiten Hälfte des Buches total ein. Lange saß ich nicht mehr so mit Herzklopfen beim Lesen und hatte fast Angst, die nächste Seite umzublättern. Ich entwickelte parallel zu Rachel eine Angst vor Carnhallow House, in dem so seltsame Dinge vor sich gingen.

Neben den ganzen Beschreibungen wurde auch den Figuren viel Zeit eingeräumt. Dies führt dazu, dass ich der Meinung bin, jede Figur wirklich begriffen zu haben. Die oberflächliche Schönheit und die tiefen, dunklen Winkel lässt S. K. Tremayne den Leser sehen. Dabei schaffte er interessante Figuren, die vielschichtig und authentisch wirkten.
Weniger authentisch waren hingegen die Dialoge. Sie wirkten streckenweise hölzern und plump. Regelmäßig dachte ich: „So würde niemand reden. Und schon gar nicht mit einem Kind.“

Der Herbst und der Winterbeginn im Buch transportierten eine Stimmung, die perfekt zur Geschichte passte. Alles war düster, kalt, klamm.
Von der Story an sich war ich zusätzlich begeistert. Ein Thriller im Umfeld von Bergbau kommt nicht häufig vor. Mir fiel sofort nur „Nacht unter Tag“ von Val McDermid ein, das jahrelang auf meiner Wunschliste stand, bevor es irgendwann doch uninteressant für mich wurde. Und gruselige - in diesem Fall möglicherweise hellsichtige - Kinder versprühen auch immer einen gruseligen Charme.

Ich hatte mir also eventuell etwas mehr vom Anfang versprochen, wurde dann aber ab der Hälfte des Buches versöhnt, als e wirklich spannend, aufregend und undurchsichtig auf eine gute Art und Weise wurde. Wie die Hauptpersonen verlor ich meine Sicherheit. Ich wusste nicht, wem ich vertrauen konnte, welche Wahrnehmungen der Wahrheit entsprachen. Ich versuchte die ganze Zeit die Fäden wieder zusammenzuführen und die losen Enden fest in der Hand zu halten. Doch das Buch schlägt sie einem nach und nach wieder aus der Hand. Immer tiefer gerät man in den Strudel, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint.

Doch das Buch hat keine 400 Seiten. Der Leser weiß, es gibt ein Entrinnen oder zumindest ein Ende.
Und wie schon bei „Die Eisigen Schwestern“ war ich davon enttäuscht.
Die Auflösung wirkte konstruiert und ohne erkennbare Hinweise plötzlich auftauchend. Doch damit hätte ich mich noch arrangieren können, wenn der Autor nicht wichtige Hinweise - für mich zum Teil sogar die wichtigsten Hinweise für einen bestimmten Geschichtsausgang - einfach fallengelassen hätte. Sie fielen einfach unter den Tisch. Vielleicht weil die so klar waren, dass man sie nicht wegdiskutieren konnte - und sie somit nicht zum Ende gepasst haben.

Das Ende enttäuschte mich also etwas, auch wenn es grundsätzlich natürlich nicht verkehrt war und auch noch Überraschungen bereit hielt. Aber mit dem Konstruieren und Nur-die-Hälfte-Auflösen konnte ich nichts anfangen.
Trotzdem bekommt „Stiefkind“ 4 Sterne von mir. Das Buch riss mich einfach phasenweise so sehr mit, dass diese Spannung das für mich wert ist.