Spannender Hamburg-Thriller

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schlumbergera Avatar

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Ich habe schon lange keinen Thriller aus deutscher Feder mehr gelesen und war sehr gespannt, wie mir dieser gefallen wird. Das Grundthema "Rache vom Vergewaltigungsopfer am Täter" erschien mir vielversprechend.

Die Triggerwarnung zu Beginn des Buches hat mit etwas überrascht, aber sie steht dort zu Recht, denn die im Buch eingestreuten Szenen von Missbrauch und Vergewaltigung sind nichts für schwache Nerven. Oft genug haben sie mich angeekelt und wütend weiterlesen lassen.

Die Hauptfigur Jagoda "Milo" Milosevic gefällt mir sehr gut, sie ist komplex aufgebaut mit ihrer Familiengeschichte und ihrer Vergangenheit, die es beide in sich haben. Es war schön für mich, viel über sie zu erfahren, denn so wurde ihre etwas sperrige Art verständlich und es war nachvollziehbar, warum sie sich "anders" als ihre Eltern und Geschwister fühlt. Sehr berührend fand ich die Szene, in der sich Milo mit ihrer früheren Mentorin Angela Kaltofen unterhält. Darin wird viel erklärt, auch wie Milo zu ihrem Beruf kam. Ich sehe es immer gerne, wenn die Hauptfigur eines Buches viele Facetten zeigt.

Milos Partner Vincent Frey ist dagegen einfacher gestrickt: er liebt ungesundes Essen vom Imbiss, hat immer gute Laune und ist stets zu einem Scherz aufgelegt. Bei der Arbeit hält er jedoch bedingungslos zu Milo. Für mich ist er eine gute Ergänzung und Ausgleich zur machmal sehr ernsthaften Milo. Gut gefallen hat mir auch die grimmige Chefin der beiden, Serpil Özdemir. Sie kann Tacheles reden und ihre Mitarbeiter:innen ordentlich auf Trab bringen - und beides macht sie zur Genüge. Aber es wird auch deutlich, dass Milo und Vince im Ernstfall auf sie zählen können, sie muss eben den "Kindergarten" am Laufen halten und dafür sorgen, dass unbedachte Ego-Missionen nicht gefährlich ausgehen.

Gleich zu Anfang der Geschichte wird es spannend, und so geht es auch weiter. In der Mitte zieht sich die Geschichte doch mal etwas in die Länge, als die Ermittlungen zu lange kein Ergebnis bringen und Milo sich mal ziemlich dämlich verhält, als sie eine wichtige Sache verschweigt. Mir wurde leider nicht ganz klar, warum Milo weder ihrer Chefin noch ihren Partner Vince erzählt, dass sie bedroht wird, und es kommt zu einem unerfreulichen Intermezzo, das nicht hätte sein müssen - und das auch weder für die Figurenentwicklung noch für die Ermittlungen wirklich wichtig ist. Aber das ist Kritik auf hohem Niveau, denn dann geht es in den Ermittlungen doch wieder vorwärts und es ist mehr Spannung da als vorher.

Die Autorinnen spielen geschickt mit den Gefühlen der Leserinnen, denn tief im Inneren fühlte ich schon eine gewisse Genugtuung, dass den Vergewaltigern das Handwerk gelegt wurde - doch gleichzeitig fragt man sich, ob Selbstjustiz wirklich eine Lösung ist. Für mich habe ich keine Antwort gefunden.

Ich kann eine Leseempfehlung aussprechen, aber das Buch ist nichts für zarte Gemüter.