Biografie einer außergewöhnlichen Persönlichkeit

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marionhh Avatar

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Im Jahr 1982 wird im kleinen Dorf Jettenbrunn der Junge Karl Heidemann geboren. Dass er ein außergewöhnliches Kind ist, wird schnell klar – er schreit viel und wird nur ruhig, wenn absolute Stille herrscht. Gesegnet mit dem absoluten Gehör, hört er das Gras wachsen und den Herzschlag jedes einzelnen Menschen. Abgeschottet und zurückgezogen wächst er im Keller seines Elternhauses auf, mit Ohrenstöpseln im Ohr. Beobachtet von seiner Mutter, beobachtet und belauscht er seinerseits die Lebenden und ihr Abmühen, hört mancherlei leise gemachte Äußerung und erkennt, Frieden und Erlösung bringt nur der Tod. Karl sieht sich mehr und mehr als Heilsbringer und versteht nicht, wieso ihn seine Mitbürger anprangern. Besonders einer, Ermittler Horst Schubert, heftet sich an seine Fersen und wird zu seinem lebenslangen Verfolger.

Als die Situation in Jettenbrunn eskaliert, verlassen Karl und sein Vater, jeder für sich, das Dorf. Karl schlägt sich alleine durch, eine blutige Spur hinter sich her ziehend, und trifft auf das gehörlose Mädchen Marie, die ihrem gewalttätigen Vater Veit ausgeliefert ist. Seine Form der Gerechtigkeit kann nicht jeder nachvollziehen, erneut muss er fliehen und landet schließlich in einem abgelegenen Kloster. Als Mönch Vitus wagt er einen Neubeginn, eingebettet in eine stille Gemeinschaft mitten in der Natur, er betreut die Sterbenden, leistet seine Form der Sterbehilfe, schnitzt Skulpturen und malt Bilder mit dem Gesicht Maries. Doch auch hier hält es ihn nicht, ein letzter Akt der Barmherzigkeit an den Mönchen, und er macht sich auf den Weg, um Marie zu suchen...

Schwer in ein Genre einzuordnender Roman über einen Außenseiter, der die Welt durch sein absolutes Gehör und seine Einstellung zum Tod gänzlich anders wahrnimmt als seine Mitmenschen. Der Untertitel „Chronik eines Mörders“ ist meines Erachtens leicht irreführend, es ist kein Thriller, Karl kein Psychopath, „Mord“ ist in dem Buch nicht komplett negativ besetzt. Sicherlich befördert Karl Menschen vom Leben in den Tod, doch er mordet nicht kaltblütig, seine Motive sind durchaus nachvollziehbar und die Erzählzeit, die die Morde einnehmen, ist vergleichsweise gering. Wohltuend ist, dass der Autor auf blutrünstiger Gewaltorgien und detaillierte Beschreibungen der Morde verzichtet. Es wird immer als ein Akt der Freude und des Friedens dargestellt, eine Sichtweise, die sicherlich der Karls entspricht. Er ist der festen Überzeugung, etwas Gutes zu tun, Barmherzigkeit bzw. Gerechtigkeit walten zu lassen und ein Werkzeug der Gnade zu sein. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich alle Tiere zu ihm hingezogen fühlen wie zu einem Magneten und seine Nähe suchen. Kann er denn da ein schlechter Mensch sein?

Anfangs noch aus der Perspektive von Karls Eltern erzählt, wird die Sichtweise immer mehr zu der Karls, und der Leser nimmt immer mehr an dessen Gedanken und Gefühlen teil. Die Sprache ist etwas gewöhnungsbedürftig, sehr reduziert und teilweise abgehackt, manchmal nicht in vollständigen Sätzen. Die Geschichte insgesamt ist ziemlich anspruchsvoll, mit Gedichten gespickt, teilweise ziemlich literarisch. Trotzdem ist sie gut zu lesen, da spannend, wenn auch mitunter sehr sachlich und unemotional, die Worte wohlgesetzt. Es geht auch nicht um Sympathie oder um gut und böse und wer letztendlich siegt, sondern es ist die Beschreibung einer außergewöhnlichen Persönlichkeit und deren faszinierende Sicht auf die Dinge. Mit Karl als Mittler nimmt der Leser Dinge wahr, die sonst nie zu Gehör kommen, dringt in Geheimnisse ein, die besser ungehört blieben. Karl hat dann durchaus seine eigene Methode die Dinge zu lösen, und auf diese Weise hält der Autor der (verlogenen) Gesellschaft sehr gekonnt den Spiegel vor und deckt so manche Heuchelei auf.

Vollkommen fokussiert auf Karl bleiben die anderen Charaktere nur mehr Begleiter seines Lebens, die er mit Aufmerksamkeit bedenkt, ob gezwungen oder gewollt. Sein Herz berührt der eine oder andere durchaus, am meisten aber Marie. Einzig sein Gegenspieler, Horst Schubert, kann es an Charakter mit ihm aufnehmen und ist ihm an Intelligenz nahezu ebenbürtig. Er verfolgt ihn sein Leben lang, kommt ihm aber höchstens emotional, nicht aber körperlich wirklich nahe und kann ihn nie fassen. Zum Schluss wird aus dem Verfolger der Verfolgte, Schubert weiß genau, dass Karl nach Marie sucht, die Schubert inzwischen an sich gebunden hat, und sie schließlich auch findet. Gemessen an Karls Einstellung zum Tod und zum Leben ist der Schluss auch die logische Konsequenz seines Handelns. Die knappen Beschreibungen der anderen Figuren trägt sicherlich dazu bei, das diese mitunter etwas blass bleiben, ich hätte zum Beispiel gerne mehr über seinen Vater oder über Marie erfahren.

Formal ist das Buch in drei Teile aufgeteilt, die mit Glaube, Liebe, Hoffnung betitelt sind und je jeweils etwa ein Drittel des Buches einnehmen. Die Geschichte wird in wiederum 67 fortlaufenden, relativ kurzen Kapiteln mit sehr treffenden Überschriften chronologisch erzählt. Übrigens finde ich auch das Cover sehr gelungen, in seiner Reduziertheit spiegelt es die Sprache und die Sehnsucht Karls nach Stille (im Weiher) wider. Das Buch kommt außerdem sehr edel mit Lesezeichen und schönem stabilen Einband daher.

Fazit: Interessante und originelle Geschichte über eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Nicht so leicht zugänglich und sicherlich nicht Jedermanns Sache, man erwartet erst einmal etwas gänzlich Anderes! Liest sich nicht so locker-flockig herunter, fesselt aber ungemein und regt zum Nachdenken an, hallt nach. Jedem empfohlen, dem der Sinn nach einem ungewöhnlichem Leseerlebnis steht.