Verständnis oder doch eher Unverständnis für eine kranke Psyche?

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wuschelchen99 Avatar

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Kinder machen das Glück der Eltern vollkommen und sorgen dafür, dass aus einem Ehepaar eine Familie wird. Anders ist das bei Karl Heidemann, dem Sohn von Charlotte und Johann Heidemann. Nach der Entbindung hört das Baby nicht mehr auf zu schreien. Es dauert einige Zeit, bis der Vater herausfindet, dass Karl mit dem sensibelsten Gehör geboren wurde, was möglich ist. Jedes noch so kleine Geräusch ist für ihn eine Qual. Selbst im Mutterleib war Karls Gehör schon so ausgeprägt. Nur in der Abgeschiedenheit und Stille des Kellers findet Karl und seine Familie Ruhe. Stille, nur das strebt Karl an. Daher spricht er auch nicht. Doch Karl ist hochintelligent, lernt schnell und beobachtet sehr gut. Seine Schlüsse aus dem, was er hört, sind bedingt durch die Abgeschiedenheit außergewöhnlich, vor allem sein Bezug zum Tod sind der Grundstein für eine nicht endend wollende Suche nach der absoluten Stille und dem Schenken von Stille.

Es ist erstaunlich, wie eine seltsame Dorfgemeinschaft, ein überempfindliches Gehör und die dadurch nicht vorhandene Bindung zwischen Eltern und Kind sowie keine vermittelten sozialen und emotionalen Werte einen Menschen zu dem machen können, wie es Karl geschehen ist. Sein Wandel von einem von der Außenwelt abgeschnittenen, dicken und gestörten Einzelgänger mit kranker Psyche bis hin zum Massenmörder, aber auch gefühlvollem Sterbebegleiter und liebenden Menschen, der nur auf der Suche nach der absoluten Stille ist, ist vom Autor tief bewegend dargestellt. Es ist schwer zu entscheiden, ob Sympathie und Mitleid oder Abscheu für Karl überwiegen, denn die Frage danach, wer oder was Schuld an dessen Zustand ist, lässt sich nicht beantworten.

Thomas Raab hat mit „Still – Chronik eines Mörders“ ein außergewöhnliches Buch geschrieben, das von Frank Arnold als Sprecher zu einem Genuss in Hörbuchform wird. Ein echter Thriller/Krimi ist das Werk nicht, denn dem widersprechen viele gesellschaftskritische Elemente und das Auseinandersetzen mit Andersartigkeit, auch wenn es sehr viele Leichen und einen sehr engagierten Ermittler in Form von Horst Schubert gibt. Aus Sicht des Protagonisten ist es eher als eine Autobiografie zu betrachten.

Tief bewegend, verstörend, extrem fesselnd, dramatisch, sprachgewaltig, grausam und intensiv sind die Worte, die mir nach dem Hören des Hörbuches einfallen. Einziger Punktabzug ist, dass ich viele Passagen mehrfach anhören musste, um die vielen Feinheiten genau zu erfassen. Zwischenzeitlich wurde es dadurch langatmig. Aber trotzdem kann ich eine Lese-/Hörempfehlung aussprechen.