Das Potenzial der Figur "Medusa" wurde nicht voll ausgeschöpft

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Bei dieser Rezension bin ich mit mir selbst uneinig. Ich wollte "Stone Blind - Der Blick der Medusa" von Natalie Haynes (übersetzt von Babette Schröder und Wolfgang Thon) soooo sehr lieben. Ich sehe zwar den Mehrwert dieses Buches für den Markt der griechischen Mythologie-Nacherzählungen, aber ich habe 1., etwas anderes erwartet und 2., war es nicht meine Art von Erzählung.

"Poetisch und klug erzählt Natalie Haynes die Geschichte einer Frau, die von anderen zum Monster gemacht wird - und sich doch selbst behauptet." - dieses Klappentextversprechen hat mich aufhorchen lassen, da ich feministische Retellings aus der Perspektive von weiblichen mythologischen Figuren liebe. Mythologie ist universell anwendbar und solche Geschichten lassen mich die Gegenwart reflektieren. Dieses Versprechen konnte, meiner Meinung nach, aber nicht eingehalten werden.

Haynes hat sich für eine übergreifende Nacherzählung von den antiken Geschichten, die etwas mit Medusa zu tun haben, entschieden, inkl. einer Vielzahl an Perspektiven verschiedener Gottheiten, die in vielen, äußerst knappen Kapiteln erzählt werden. Medusas Perspektive kommt hier nur marginal vor; viel öfter sind es Perseus und Athene, deren PoV man einnimmt. Ich konnte mir zwar einen Eindruck davon machen, mit welchen Gottheiten und Geschichten Medusa zu tun hat, aber ich hatte leider keine Chance, sie - die mich auf dem Cover so in den Bann gezogen hat - wirklich kennenzulernen.

Auch wegen des Schreibstils fiel es mir schwer, Immersion herzustellen. Er ist durchzogen von einem Humor, der so gar nicht meins ist und den ich an vielen Stellen nicht als passend empfunden habe. Ständig wird die vierte Wand durchbrochen, um gewisse Standpunkte zu unterstreichen (z.B. das Perseus *wirklich* ein schlechter, böser Held ist). Fehlende Tiefe und Nuancen haben mich am Ende ziemlich genervt.

Wenn ich aktuelle Retellings lese, wünsche ich mir, einfach eine thematische Tiefe mythologischer Figuren. Medusa - eine *der* weiblichen Ikonen der Popkultur, ein Monster, eine Bedrohung, die aus Angst vor weiblichem Verlangen entstand und männliche "Kontrolle" "benötige". Das alles verbindet man heute mit Medusa. Gerade mit Blick auf Klappentext und Marketing - eine Bearbeitung dieser Themen oder eine Introspektion in die Figur bekommen wir hier nur marginal.

Aufgrund der Knappheit der Kapitel und oberflächlichen Beschreibungen, und wegen des Humors, der so gar nicht meins war, konnte ich keinen richtigen Zugang zum Text finden. Für mich blieb das Buch insgesamt flach und emotionslos. Wer allerdings mit der Erwartungshaltung rangeht, eine Einbettung von Perseus/Medusa in die übergreifenden mythologischen Erzählungen zu bekommen, und wer mit dem Humor klarkommt, dem könnte das Buch durchaus gefallen.

Ich vergebe 2,5 Sterne.