Klar wie eine Meeresbrise
In seinem neuen Roman "Strandgut" erzählt Benjamin Myers die bewegende Geschichte zweier sich verloren Fühlender, die sich an der rauen englischen Küste begegnen .
Earlon “Bucky” Bronco, ein Siebzigjähriger aus Chicago, fühlt sich seit dem Tod seiner Frau wie ein Schiffbrüchiger – ziellos und isoliert in seinem Alltag zwischen Bett und Walmart-Apotheke . Überrascht erhält er eine Einladung zu einem Soul-Festival in Scarborough – und setzt zum ersten Mal in seinem Leben Fuß am Meer . Dort trifft er auf Dinah, eine melancholische Mittfünfzigerin, deren Alltag von Trauer und Leere geprägt ist. Ihre Verbindung entsteht über Buckys alte Songs, die in England längst eine neue Bedeutung bekommen haben .
Myers gelingt es, mit sparsamem, aber fein abgestimmtem Naturalismus das raue Küstenleben zu vermitteln. Meer, Wind und die nordenglische Stimmung werden zu fast greifbarer Kulisse. Die Sprache ist ruhig, aber eindringlich: Man spürt das Salz in der Luft, hört die Wellen und gleichzeitig das leise Rufen zweier verletzter Seelen.
Bucky und Dinah sind keine Heroen: Sie sind müde, verletzlich, tragen große Lasten. Dennoch entwickeln sie sich durch das zarte Band ihrer Begegnung. Ihre musikalische Verbindung (Soul-Lieder aus Buckys Vergangenheit) wird zum Ankerpunkt ihrer neuen Bindung. Es geht um verlorene Liebe, um Erinnerungen, um das Suchen nach Heimat – gerade dort, wo Heimat verloren scheint. Eindrucksvoll ist, wie Myers das Meer als Spiegel innerer Zustände einsetzt. Die Gezeiten, das Kommen und Gehen der Wellen, stehen sinnbildlich für die emotionale Bewegung der beiden Hauptfiguren: Auch sie sind von Verlust, Umbruch und einem ungewissen Neuanfang gezeichnet. Das Meer wird zum Zwischenraum – nicht nur geografisch zwischen Amerika und England, sondern auch seelisch zwischen Vergangenem und Möglichem. Musik wiederum fungiert als Brücke über diesen Ozean hinweg: Was einst nur Soundtrack eines vergangenen Lebens war, wird für Bucky und Dinah zum neuen Dialog. Myers verwebt Natur, Erinnerung und Klang auf kunstvolle Weise – leise, aber tiefgründig. Dadurch entsteht eine poetische Dichte, die den Roman über die eigentliche Handlung hinaus trägt.
"Strandgut", übersetzt aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence, ist kein lauter Roman – es ist ein leises, aber bewegendes Porträt zweier Menschen am Wendepunkt. Das offene Ende bleibt den Lesenden überlassen: Kein dramatischer Abschluss, sondern eine Einladung zum Weiterdenken. Myers überzeugt mit atmosphärischem Feingefühl, mit Tiefe und einer wohltuenden Empathie – all das in einer Sprache, die so klar ist wie eine kühle Meeresbrise.