Authentische Erzählung, gut recherchiert

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Kinder, die den Holocaust überleben - und die Wirkungen ihrer Traumata auf die nachvollgenden Generationen

Ich habe schon viel Literatur über den Holocaust gelesen, aber zum ersten Mal über Kinder, die mittels einer Zeitungsannonce in Familien nach England vermittelt wurden. Die Schicksale der Kinder sind sehr unterschiedlich, was sie gemeinsam haben, ist, dass sie in sehr jungem Alter ihre Familie zurücklassen und in eine ungewisse Zukunft reisen, um zu überleben. Es sind liebevolle Eltern, die ihre Kinder nicht loswerden, sondern retten wollen, wie müssen sie sich gefühlt haben, als sie sie zum Bahnhof brachten? Die Kinder gehen nicht nur, um sich selbst zu retten, sondern oft mit der Aufgabe, sich von der Ferne, hier England, darum zu kümmern, dass ihre zurückgebliebene Familie auch Visa erhält – sie müssen schnell erwachsen werden und Verantwortung übernehmen. Mit Kriegsausbruch ist die Verbindung zur Familie unter-, oft abgebrochen, viele Familienmitglieder werden von den Nazis ermordet. Die Kinder leben mit Schuldgefühlen (wie viele Holocaust-Überlebende), überlebt zu haben, während andere starben, aber auch mit Schuldgefühlen, versagt zu haben, für ihre Familie zu sorgen. Gleichzeitig fühlen sie sich unwürdig gegenüber Überlebenden aus Konzentrationslagern, weil sie in Sicherheit den Holocaust überlebten, während andere den Terror hautnah miterlebten.
„Wir litten nicht an Kälte und Hunger, und deshalb war unser Leid nicht zu vergleichen mit dem, was die Kinder in den Ghettos und Lagern ertragen mussten. Aus diesem Grund haben wir unsere Geschichte nicht oft erzählt.“
Die Verarbeitung des Erlebten ist immer individuell und wird hier nicht qualifiziert; es ist ein weiteres Kapitel, das nicht vergessen werden darf: dass der Naziterror nicht mit dem Ende des Regimes endete, sondern die Überlebenden bis zu ihrem Tod verfolgte und die psychischen und körperlichen Folgen sich auch auf ihre Partnerschaften und Kinder / Enkel auswirkten. Ich denke, zu dem Thema wird es in Zukunft noch mehr Studien geben, da die Forschung zu vererbten Traumata noch recht jung ist. „Sie alle trugen eine Last aus Wien mit sich heruum: das Gewicht des Verlustes und die Schuld des Überlebens.“
Neben dem konkreten, geschichtlichen Aspekt der wichtigen Holocausterinnerung finde ich das Buch auch brandaktuell wichtig, wenn man an die vielen Kinder denkt, die heute auf der Flucht sind, die heute von ihren Eltern losgeschickt werden, um mit dubiosen Schleppern in eine bessere Zukunft zu verschwinden, in der Hoffnung auf ein besseres, sicheres Leben. Es ist so wichtig, sich um diese Kinder zu kümmern und sie nicht sich selbst zu überlassen, es reicht nicht einfach, dass sie hier ankommen. „Oft is Gewalt nur der Anfang. Zur wahren Geschichte des Krieges gehören auch die Jahre und Jahrzehnte danach, all die Tage, die die traumatisierten und trauernden Überlebenden überstehen müssen, um ihr Leid an die nächste Generation weiterzugeben.“
Es ist kein Roman, eher eine längere Reportage, sehr persönlich. Der Aufmacher ist die Anzeige, mit der der Vater des Autors nach England kam. Der Autor, ein renommierter Journalist, hat die Schicksale von sechs Kindern und ihren Familien recherchiert, das liest sich manchmal wegen der vielen Namen etwas verwirrend, ist aber egal, denn es bleibt die Balance zwischen dem individuellen Schicksal und der Stellvertretung für so viele Schicksale respektvoll erhalten. Ein gut geschriebenes, wichtiges, sehr lesbares Buch.