Ein beeindruckendes Buch

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rflieder Avatar

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Der Autor dieses Buchs, Julian Borger, britischer Auslandskorrespondent für den „Guardian“ in den USA, hat jüdisch Wienerische Wurzeln. Seinem Vater Robert „Bobby“ Borger gelang Anfang 1939 nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich und nach den Pogromen vom 9. November 1938 die Flucht nach Wales. Über die Umstände der Flucht und das Leben danach wurde in der Familie nicht gesprochen. Der Vater war offenbar traumatisiert und verdrängte alles, was seiner engeren Familie (die gerettet wurde) und den Freunden und der weiteren Familie, die viele Opfer zu beklagen hatten, widerfahren war.
Der Suizid des Vaters im Jahr 1983, Julian Borger war erst 22 Jahre alt, konnte von ihm nicht eingeordnet werden. Erst im Jahr 2018 erfuhr er zufällig von den Umständen der Flucht des Vaters und begann zu recherchieren, wie es ihm und anderen Wiener Juden ergangen ist und was die Flucht, der Verlust vieler Angehöriger und das Leben danach bei ihnen ausgelöst hat.

In diesem bewegenden Buch beschreibt er die Fluchtumstände und den Werdegang seines Vaters und sieben weiterer Kinder, die von ihren Eltern über Zeitungsanzeigen im „Guardian“ in britische Pflegefamilien vermittelt wurden (bzw. werden sollten). Die Erzählungen zum Leben seiner eigenen Familie in Großbritannien sind eher emotional und mit Anekdoten durchsetzt. Zum Beispiel schildert Borger mit britischem Humor (oder ist es Sarkasmus?) den Versuch, mithilfe der Kleidung und des Essens das Wiener Leben nach Großbritannien hinüber zu retten.

Sachlich und weniger emotional sind die Ausführungen über die historischen Entwicklungen und die Erfahrungen der anderen Kinder. Einst zum Füllen der Kriegskassen vom österreichischen Kaiser nach Wien geholt, wo sie in gutbürgerlichen Verhältnissen lebten (z.B. waren über 60% der Rechtsanwälte und 50% der Ärzte Juden), mussten die Juden nach 1938 ihr Leben retten. Schafften sie es ins Ausland, so mussten sie ihr vertrautes Umfeld aufgeben, sich trotz Sprachschwierigkeiten anpassen und mit einfachen Arbeiten ihr Überleben finanzieren. Einige dieser Kinder reisten weiter in die USA, ein Mädchen gelangte ins von den Japanern besetzte Schanghai.

Neben diesen acht Einzelfällen erfährt der Leser viele historische Fakten über die Entwicklung der jüdischen Gemeinde in Wien, den „Anschluss“ Österreichs und das Verhalten der österreichischen Politiker und Bevölkerung, die Schwierigkeiten, Länder und Menschen zu finden, die bereit waren, Juden aufzunehmen, was sich mit dem Kriegsbeginn und dem Kriegseintritt der Briten und später der USA verschärfte und wie es anderen Juden erging, die nicht so viel Glück hatten wie Robert Borger.

Es ist bewundernswert, mit welchem Engagement der Autor recherchiert hat und mithilfe unzähliger Menschen in vielen Archiven tatsächlich herausgefunden hat, was aus den Kindern der Zeitungsannoncen geworden ist.
Auch wenn das Lesen des Buchs teilweise viel Konzentration erfordert, da die vielen Namen gelegentlich verwirren und da Unmengen an Fakten eingestreut werden, kann ich es gerade in der heutigen Zeit der Zunahme populistischer und rechter Gesinnungen nur empfehlen.