Unentschlossen

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aoibheann Avatar

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Anhand des Klappentextes würde man eine sehr sehr traurige Geschichte erwarten. Es ist aber eine überraschend lebensbejahende Geschichte. Denn es nicht nur um Verarbeitung von Verlust und Trauer, sondern auch um Perspektivenwechsel und Neuanfänge.
Die Beziehung zwischen Anne und Esther ist zu Beginn nicht die Beste. Sie begegnen sich angespannt und mit vielen unausgesprochenen Vorwürfen zwischen einander. Beide lernen einander im Verlauf der Reise wieder neu kennen, nähern sich einander wieder an und können die Beweggründe der anderen zumindest etwas besser verstehen. Die Beziehung zu ihrem Mann Robert ist sehr bröckelig, beide haben sich in den letzten Jahren über die Suche nach ihrem Sohn als Ehepaar verloren.
Auf den ersten Blick machte die Handlung aus emotionaler Sicht einen eher oberflächlichen Eindruck auf mich. Auf den zweiten Blick fand ich es dann aber doch geschickt geschrieben, die Gefühle ihrer Figuren nicht bis ins kleinste Detail auszuschreiben. Annes Verzweiflung und Selbstvorwürfe kommen dennoch sehr gut zur Geltung.
Die landschaftlichen Beschreibungen sind für mich allerdings der heimliche Star in der Handlung. Wunderschön mit wenigen, dafür aber sehr prägnanten Sätzen beschrieben, dass ich mich mitten in die Szenerie versetzt gefühlt und den Vögeln nachgesehen habe. Und ich gestehe: auch wenn Indien oder Nepal nicht auf meiner persönlichen Reiseliste stehen, kommt da durchaus schon ein wenig Reiselust auf.

Insgesamt vermittelt die Geschichte viele positive Gefühle. Die Liebe für das Leben selbst, die Frage nach dem persönlichen Lebensmodell und wie man es findet, den Mut einen Neuanfang zu wagen, wer man selbst ist und wie man sich selbst findet. Die Autorin spielt da auch ein wenig mit gängigen Klischees, aber es passt gut ins Gesamtbild und wirkt nicht aufgesetzt.
Über Torrans Beweggründe bleibt der Leser weitestgehend im Dunkeln. Er taucht ein paar Mal in der Geschichte auf und man ahnt, wie nah sich beide Parteien auf dieser Reise sind. Ich persönlich finde sein Handeln egoistisch, bei allem Verständnis für die Selbstfindung. Mich wundert es etwas, dass dieser Punkt nie so wirklich ausgesprochen wird.

Mir hat das Ende nicht gefallen. Wenn ich daran denke, dass Anne sieben (!) Jahre in Ungewissheit über den Verbleib ihres Sohnes gelebt und Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hat, um ihn zu finden, reicht diese Reise von wenigen Tagen offenbar aus um eine komplette Kehrtwende hinzulegen und einen Scherbenhaufen zu hinterlassen (das wird nicht so gesagt, aber für mich fühlt es sich beim Lesen so an). Einen Neuanfang auf (emotionale) Kosten der engsten Familie finde ich keinen feinen Zug und macht ehrlicherweise viel Gutes aus der Geschichte für mich auch wieder kaputt.