Kraftvolle Stille

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fraedherike Avatar

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Mit dem Zug zu verreisen bedeutete für Meret Dinkelspiel immer ein Abenteuer. Gerne denkt sie zurück an die Urlauber auf der Schweizer Alm, die Marillenknödel, das dumpfe Klingen der Kuhglocken. Doch die Zeiten haben sie geändert; die Nazis sind an der Macht und die Dinkelspiels in Deutschland nicht mehr sicher. Und so stehen sie, Meret und ihre Schwester Ricarda, der kleine Friedrich und ihre Eltern Oz und Malka, Anfang 1937 in Stuttgart auf dem Bahngleis, um nach Dänemark zu flüchten. Eine verwitwete, angeheiratete Tante gewährt ihnen widerwillig Unterkunft in ihrem Haus in der Hafenstadt Svendborg, fühlt sich allerdings von der Räuberfamilie zunehmend in ihrem eigenen Haus gefangen und ausgebeutet. Auch den Dinkelspiels fällt es schwer, sich in ihrer neuen Heimat einzuleben: Ricarda sehnt sich nach ihrem Verlobten Kurt-Anselm und möchte alsbald wieder nach Deutschland an die Musikhochschule; Meret fühlt sich heimatlos und voller Fragen, sie hat Angst, dass sie als Juden ausgemacht werden und angeklagt werden könnten, findet aber in ihren Büchern und schließlich im Motoradfahren eine unverhoffte Freude.

"Zwar ist es allen von Anfang an klar gewesen, es ist mit allen so besprochen, man muss fort und wird - vorerst - nicht mehr zurückkehren, aber trotzdem ist jetzt erst das Bleiben schlagartig zum Schicksal geworden." (S. 50)

Durch Zufall lernen sie auf unterschiedlichem Wege die beiden Frauen kennen, die im Leben Bertolt Brechts eine große Rolle spielten, und finden in ihnen Freundinnen: Während Meret mit Margarete Steffin, die die beiden Kinder Brechts betreut und ihm in Arbeits- und Liebesdingen zur Seite stand, über Tee und Gebäck über das Leben sinniert, führt Ruth Berlau, Brechts Geliebte, Ricarda in die Welt des Theaters ein und ermutigt sie, den Wegen ihres Herzens zu folgen. Ein Funke, der alsbald gefährlich lodert.

"Das Aufschreiben [meiner Gedanken über das Leben in Dänemark] kommt mir wie Motorradfahren vor. Denn es besitzt dasselbe Brausen. Nur dass ich es nicht mit Ricarda teilen kann. Die will ihren Rücken ja am liebsten umwenden und zurückgehen. Vielleicht tut sie es auch bald? Schreiben aber heißt bleiben." (S. 150)

Mit zarten, leisen Worten erzählt Tanja Jeschke in ihrem Roman „Svendborg 1937“ die Geschichte der jüdischen Familie Dinkelspiel, die Anfang 1937 nach Dänemark flüchtete. Im Fokus der Erzählung steht Meret, damals gerade siebzehn Jahre alt. Distanziert und vorsichtig schildert die Autorin zunächst aus einer auktorialen Perspektive Merets Misstrauen ob der vermeintlichen Sicherheit, die das Leben in Dänemark bieten soll, ihre Sorge um das Wohlergehen der Eltern und ihrer Schwester Ricarda besorgt – und ihre Rastlosigkeit. Trotz all der Freuden des Lebens, die sie wiederentdeckt – den Tivoli, die Strandbesuche, verliebte Blicke zu den jungen Männern in Kopenhagen –, bleibt aber doch immer eine gewisse Traurigkeit, die durch ihre immer weiter kreisenden Gedanken ob des Status der Juden in der Gesellschaft und dem Sinn des Lebens im Exil zum Ausdruck gebracht wird. Es ist wahrlich nicht einfach für sie, unter solchen Bedingungen aufzuwachsen und eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln.
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Mit dem Eintritt der Frauen Brechts in ihr Leben und dem ihr zugewandten Rücken des großen Autors, der für sie symbolisch für das Leben steht, das er – ebenso wie die Familie Dinkelspiel – in Deutschland hinter sich ließ, beginnt sie, ihre Erlebnisse und Gedanken aufzuschreiben; die Erzählperspektive wandelt sich, wird persönlicher, intimer, mein Herz zog sich ob der sich zuspitzenden Situation immer mehr zusammen, eine Eisenfaust in meiner Brust. Es sind die leisen Töne, in denen der Roman seine Stimme entfaltet, kleine Dinge, vermeintlich alltägliche Beschreibungen und Charakterisierungen, die im Kleinen wirken und betroffen machen: die Geschichte hinter dem Bild von Mitsch-Forch, Friedrichs Behinderung, die Salzschale der Tante. Eingebettet in das Kriegsgeschehen Ende der 1930er Jahre, wenn auch einer anderen Perspektive, als man sie aus dem Geschichtsunterricht kennt, erzeugt die Autorin durch die Einbindung und Nennung großer Literaten und Künstler eine besondere Art des Wiedererkennens und der Verbundenheit. Trotz der unendlich schmerzhaften und schweren Thematik erzeugt sie durch ihre liebevollen, empathischen Worte so viel Wärme, dass ich gerne noch viel länger, detaillierter Merets Leben gefolgt wäre. Eine große, kleine Geschichte, die im Herzen bleibt.