Kluges Buch über Rasse, Klasse, Identität

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Die kindliche Ich-Erzählerin des Romans sieht das Musical Swing Time mit Fred Astaire und Ginger Rogers und entflammt für den Tanz: Bald wird klar, dass ihr Talent für die Bühne nicht reichen wird. Aber vielleicht schafft es Tracey, ihre Freundin aus der Tanzklasse?

1982, die Erzählerin ist 7 Jahre alt. Zwei Erzählstränge wechseln ab zwischen ihrer Kindheit und ihrem Erwachsenleben als Personal Assistant für Pop Star Aimee. Die Schauplätze sind London, New York und ein Dorf in Ghana, in dem Aimee eine Mädchenschule aufbauen will. Im Lauf des Romans nähern sich die Zeiten aneinander an, bis sie die Gegenwart des Prologs erreichen. Dieser Prolog setzt einen Spannungsbogen, der bis zur letzten Seite hält. Wir folgen dem Leben und der Entwicklung der beiden Mädchen: Wird Tracey es bis in die Theater des West End schaffen? Welchen Weg wird die Erzählerin gehen? Smith lässt uns eintauchen in das Soziotop der Sozialbauten von London NW, das glamouröse Leben von Popstars und in die ganz andere Welt Westafrikas. Smith sieht in jedem Milieu ganz genau hin und fasst ihre Wahrnehmung in pointierte Sprache.

So sehr Swing Time bei mir das Kopfkino angeworfen hat, so ist der Roman jedoch niemals „nur“ eine Story. Die Themen, die Smith umtreiben und dem Roman Tiefe und Resonanz verleihen, sind: Talent und seine Implikationen. Zugehörigkeit: zu einer Familie, einer Rasse, einer Berufsgruppe. Soziale Schichten, ihre Codes und vertikale Durchlässigkeit. Vor allem aber geht Smith der Frage nach, wie es um die Identität mischrassiger Menschen in unterschiedlichen Kontexten bestellt ist. Sie zeigt, wie ein und dieselbe Person in England als schwarz und in Afrika als weiß wahrgenommen werden kann – mit allen Konnotationen. Sie denkt darüber nach, wie subjektiv diese Zuschreibungen sind und was sie bewirken können. Dieses Thema variiert sie virtuos; eins der witzigsten Beispiele ist ein schwules mischrassiges Paar, dessen schwarzer Part eines Tages von einer (alten, weißen) Nachbarin angesprochen wird: „You don´t need a master, you can be free – let me help you!“

Die Figur der Erzählerin dürfte so manche Leserin irritieren. Wer die Identifikation mit der Hauptfigur braucht, sei gewarnt: für den wird der Roman vielleicht nicht funktionieren. Sie wirkt richtungslos, leidenschaftslos, ohne Eigenwillen; nicht ohne Grund bleibt sie namenlos; in ihrer Identitätslosigkeit verstehe ich sie als die Haupt-Ideenträgerin des Romans. Dennoch ist Swing Time – bei aller Gedankentiefe – kein ideelles Lehrstück oder verkopftes literarisches Experiment.

Smith hat für Swing Time großartig komplexe Figuren geschaffen. Mir gefiel ihr virtuoses Spiel mit den Grautönen: Da ist die Ghanaerin Hawa mit ihrer vitalen Oberflächlichkeit; die vampirische Elfe Aimee, die nicht nur ihr eigenes Leben lebt, sondern das einiger anderer Menschen gleich mit; der arbeitslose Bachir, der mit den Insignien des Erfolgs (Anzug, Handy, Laptop) eine längst verlorene Identität aufrechterhalten will; da ist die Mutter der Erzählerin, geborene Politikerin mit Instinkt für soziale Codes; und da ist vor allem Tracey; unbezähmbar und rachsüchtig. Jeder dieser Charaktere hat mir gemischte Gefühle beschert: Bewunderung und Verachtung; Genervtsein gepaart mit Mitleid; Ungeduld mit Verständnis – kurzum: Alle sind so lebendig, als wollten sie jeden Moment aus der Seite herausspringen.

Fazit: Eine fesselnde Story, lebendige Charaktere, eine meisterhafte Konstruktion, jede Menge kluger Sätze und Gedanken, ein neuer Blickwinkel und eine Menge Fragen, an denen man herumdenken kann: Ich habe Swing Time mit wachsendem Genuss verschlungen. Meine Empfehlung: Lesen!!!