„Unterschiedlich ist nur die Größe der Blase“ - oder wie man anspruchsvoll scheitert

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Alles beginnt mit dem Ende: Die Erzählerin, deren Namen nie genannt wird, verliert publikumswirksam ihren Job als persönliche Assistentin eines Superstars der Musikindustrie und steht kurz im Rampenlicht öffentlicher Schaulust. Der Druck durch die Gaffer erhöht sich durch ein Video aus Kindertagen, das die Erzählerin und ihre beste Freundin Tracey veröffentlicht: „Jetzt weiß endlich jeder, wer du wirklich bist“, ist der gehässige Kommentar. Nach diesem Prolog entwickelt sich die Erzählung, die genau der Frage nachgeht: Wer ist sie denn eigentlich wirklich? Wie wurde sie, was sie ist? Und wie sind die anderen? Es geht um die jeweilige Wahrnehmung, um die „Blase“, in der sich der Einzelne befindet, jeder in seiner. „Unterschiedlich ist nur die Größe der Blase“, in der man seine Welt einrichtet und die so verletzlich schimmert: „Die dünne Außenhaut der Blase.“ (S. 620)

Sieben Kapitel in kurzen Szenen geben die zwei Geschichten der Erzählerin in sich abwechselnden Episoden wieder: die Kindheit und ihr Verhältnis zu Tracey sowie die zehn Jahre vor dem Eklat, die sie bei der Sängerin Aimee verbringt und in ihrem Weltverbesserungsprojekt in Afrika. Die Erzählerin entstammt der Ehe einer engagierten Schwarzen aus Jamaika und einem passiven Weißen aus London, gilt also in der Schule und dem Studium als Schwarze, als Migrantin. In Afrika hingegen wechselt ihre Identität: Sie wird als weiße wahrgenommen. Die Zeiten und Personen sind verbunden durch Tanz: Swing Time ist ein Roman über tänzerischen Ausdruck und Körperlichkeit. Seinen Namen hat sich der Roman aus dem Tanzmusical „Swing Time“ von 1936 mit Fred Astair entliehen, über den die namenlose Erzählerin nachdenkt und die Autorin Zadie Smith zu Wort kommt, indem sie Programm des Romans liefert, das einen großen Bogen aufmacht:

„Ging es in allen Freundschaften - in allen Beziehungen - um einen (…) Austausch von Qualitäten, einen Austausch von Macht? Ließ sich das auch auf Völker und Nationen ausdehnen, oder war es etwas, das nur zwischen Einzelpersonen stattfand? Was gab mein Vater meiner Mutter - und umgekehrt? (…) Was gab ich Tracey? Was gab Tracey mir?“ (S. 171)

Die gefeierte englische Autorin Zadie Smith wird oft als „Stimme der Migranten“ wahrgenommen, weil sie mit viel Gefühl, Sachverstand und Erfahrung das Thema „fremd daheim“ immer wieder ins Zentrum ihrer Texte stellt. Selbst Tochter einer Jamaikanerin und eines weißen Engländers aus dem armen Norden Londons, erzählt sie immer wieder auch ihre Geschichte als Kind zweier Hautfarben. In „Swing Time“ spricht Smith große Themen an: Identität, Freundschaft, Rassenproblematik, Armut, Einfluss von Reichtum und/oder Geld, Emanzipation, Bildung, Schaden und Nutzten von Entwicklungshilfe etc. Wem die Aufzählung zu lang vorkommt, hat das Problem erfasst, das ich mit „Swing Time“ hatte: Zadie Smith wollte zu viel, erklärte zu viel, redet zu viel.

Der Eindruck der Geschwätzigkeit wird durch die Ich-Perspektive verursacht: Die Erzählerin berichtet nicht nur chronologisch über ihr Leben, sie reflektiert auch andauernd die Episoden, Momente und Erlebnisse, die sie referiert. Oft werden sie in größere Kontexte gestellt, Gedanken ausgeführt, das Übergeordnete angesprochen oder das Vergleichbare angeführt. Beim Lesen entsteht immer wieder das Gefühl, eigentlich noch über einen Satz nachdenken zu wollen, eigentlich noch verstehen zu wollen, während der Erzählfluss weiterströmt und die ganze Reflexion mit sich reißt. Im Erzählpogramm zu „Swing Time“ führt die Erzählerin angesichts der Darstellkunst Fred Astairs und seiner Selbstreflexion aus:

„(…) dass es nämlich vor allem darauf ankam, sich selbst wie jemand Fremdes zu behandeln, unabhängig und unvoreingenommen in Bezug auf sich selbst zu bleiben.“ (S. 171)

Das versucht die Erzählerin fortwährend, und man möchte ergänzen: leider. Obwohl sie ständig präsent ist, bleibt die Hauptperson unfassbar und unpersönlich, Sie ist bis zum Ende „jemand Fremdes“, und deshalb stellt sich unaufgefordert ständig die Frage: Warum soll ich das lesen? Was interessiert mich das Schicksal der Erzählerin ohne Namen oder das Traceys mit ihrer kaputten Persönlichkeit oder ihrem kaputten Hintergrund? Warum?

Am Ende enttäuscht das Buch, obgleich es flüssig geschrieben ist, weil es hinter seiner Geschwätzigkeit vermuten lässt, dass es an seinem großen Anspruch gescheitert ist.