Ein roman-isiertes Tagebuch?

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lenaliestzuviel Avatar

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Wenn man über Bücher redet, spielt häufig die Frage des "Ersten Satzes" eine große Rolle. In Paolo Giordanos "Tasmanien" ist jedoch der letzte Satz der entscheidende, denn erst durch ihn versteht man das vorher auf über 300 Seiten präsentierte Durcheinander.

Auch wenn das Buch die Bezeichnung "Roman" auf dem Cover trägt, weist dieser "Roman", dessen Hauptcharakter ebenfalls Paolo heißt, Physik studiert hat, in Rom wohnt und als Journalist arbeitet, doch starke Parallelen zur Biografie seines Verfassers auf, sodass sich unweigerlich die Frage stellt, wo die Grenze zwischen Fakt und Fiktion verläuft. Eine intendierte autobiografische Orientierung würde erklären, warum nicht alles Sinn ergibt, manche Handlungslinien unvollendet bleiben etc. - doch zunächst zurück zum Anfang.

"Tasmanien", was mit dem Land gleichen Namens nichts zu tun hat (es wird im Buch insgesamt zweimal erwähnt, hat für die Handlung allerdings keinerlei Relevanz) folgt den Erlebnissen eines freien Schriftstellers in der Zeit zwischen 2016 und 2020. Mit der Arbeit an seinem neuen Buch über die Atombombe beschäftigt, verweben sich Leben des Protagonisten und zeitgeschichtliche Themen: Klimawandel (allerdings mehr als Politikum, als als inhaltliches Thema), terroristische Anschläge und Organisationen (zu denen die Hauptfigur eine fast ambivalente Haltung zu haben scheint) und die "Gender-Frage", welche v.a. im Kontext der Rolle von Frauen im akademischen Umfeld behandelt wird, wenn auch (erneut) sehr ambivalent. Paolo geht es dabei meist eher um persönliche Beziehung als um ein Richtig oder Falsch. So erklärt es sich auch, dass moralische und politische Fragen häufig unter dem Drama seiner Gefühlswelt verschwinden, wie etwa der schwierigen Beziehung zu seiner deutlich älteren Frau oder seinem Wunsch nach einem Kind, der eigentlich der Wunsch danach ist, Vater zu sein.

An sich wäre das gar nicht einmal ein so schlechtes Konzept für einen Roman, doch gelingt es Giordano nicht, dieses auch voll durchzuziehen. Politisch fehlen etwa sehr auffällig Themen wie die #metoo Debatte oder der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche, die kaum erwähnt werden. Auch inhaltlich scheint Giordano Paolo nicht ganz zu folgen - die am Ende erwartete Katharsis, die Selbsterkenntnis des Protagonisten, bleibt in vielerlei Hinsicht aus. Andere Aspekte bleiben ebenfalls offen.

So entsteht insgesamt der Eindruck, eine Art "roman-isiertes" Tagebuch zu lesen, mit zu starken autobiografischen Einflüssen, als dass man sie ignorieren könnte, auffälligen Lücken und dem bleibenden Gefühl, dass das Schreiben des "Romans" als Ersatz für einen Besuch beim Psychologen diente. Besonders deutlich wird das hinsichtlich der Identitätskrisen des Protagonisten, bei denen man sich als Leser fünf Schritte voraus fühlt und am liebsten mit der Hauptfigur ins Gespräch treten möchte, um ihr zu zeigen, wo sie sich vor sich selbst versteckt. (Selber erkennt sie das bis zum Ende des Buches nicht.) Für eine Autobiografie wäre das sicher vertretbar, als Roman liest sich das jedoch schmerzhaft und unvollendet.

Mit einer Empfehlung tue ich mich deshalb schwer. Wer aufgrund der politischen Teaser-Themen im Klappentext, insbesondere des Klimawandels, auf dieses Buch aufmerksam geworden ist, dem würde ich sogar explizit von der Lektüre abraten. Für Fans von Paolo Giordano mag es dagegen genau das richtige sein, genau wie für Personen, die gern Romane über zwiegespaltene Persönlichkeiten lesen, deren Ende weder glücklich noch tragisch, sondern einfach offen ist - so wie das Leben. Sprachlich ist das Buch auf jeden Fall nicht schlecht. Ich wünschte nur, Giordano hätte sein Schreibtalent dafür genutzt, einen auch inhaltlich überzeugenden Roman zu präsentieren.