Dann stößt sie sich ab und fliegt!

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martinabade Avatar

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Ein Buch über Wilhelm Tell, noch eines? Den kennt doch jeder. Das ist der mit dem Apfel. Das mussten wir in der Schule lesen, in der Theater AG spielen. Da ist doch irgendwie hinterher die Schweiz gegründet. Wie war das doch gleich? Ach ja, der Rütlischwur.

Im Lexikonartikel findet sich unter dem Stichwort Schweiz vieles, aber nicht der Name Wilhelm Tell. Erst in der Abteilung Mythen werden wir fündig. Tell ist ein Jäger aus dem Urner Dorf Bürglen. Er wird vom habsburgischen Landvogt Geßler gezwungen, einen Apfel vom Kopf des eigenen Sohnes zu schießen und tötet den Landvogt aus Rache. Dieses „mythische Motiv“ findet sich Sagen quer durch Europa in fast allen Jahrhunderten. Der Nordmann, der im Roman beim Landvogt zu Gast ist, dürfte die Geschichte genauso gut von zuhause oben in Kälte und Eis kennen. Exkurs: Die Schweiz ist ein „Willensbund“, sie ist kein Staat aufgrund der kulturellen, sprachlichen oder religiösen gemeinsamen Identität seiner Bewohner und Bewohnerinnen.

Schmidt erzählt diese Sage, als ob er sie in Teilen für wahr hielte; wie unter einem Mikroskop seziert er einen kurzen Zeitabschnitt heraus, präpariert diesen unter der Wachsschicht der Jahrhunderte heraus, ohne jegliches Pathos, kein nationalistisches Heldentum. Die Figuren stehen nackt vor ihrem Autor.

Der Klappentext preist das Buch an: „Modern, frisch, schillernd.“ Ha, ha, Wortwitz. Aber …………………… NEIN! „The Revenant“ in den Alpen, schon eher.
„Tell“ ist ein sprachlich präzis durch komponierter Text. Natur und Menschen zeigen sich von ihrer bedrohlichen, gnadenlosen und gewalttätigen Seite. Die Armut ist uns zum Herz zerreißen. Der Autor schildert den grausamen Berg und den alles verschluckenden dichten Wald; ein menschenfeindlicher Landstrich, in dem auch der Mensch des Menschen Feind ist, in der früher und gewalttätiger Tod an der Tagesordnung ist.

Joachim B. Schmidt lebt seit Jahren in Island, wo sein letzter Roman „Kalmann“ spielt. Nun ist er erzählerisch in die Einöde und Berge seines Geburtslandes gewechselt. Und geht gleich in‘s schweizerisch Eingemachte. Die Herzkammer, sozusagen. Alles ist Kampf und Wut. Auf dem Tellenhof leben drei Generationen zusammen. Das Leben ist hart, der Hunger sitzt mit am Tisch, Haferbrei ist das täglich Brot. Eine Großfamilie, der die Mitte fehlt, denn Sohn Peter, Bruder von Wilhelm, ging eines Tages in die Berge und kam nicht zurück. Nach Wochen der Suche nahm Wilhelm Peters Platz auf dem Hof ein, im Stall, bei der Jagd und auch im Bett von Witwe Hedwig. Die Kinder sind Walter, Willi und Lotta.

In kurzen Episoden schildert der Autor jeweils aus der Sicht einzelner Figuren den Lauf der Dinge, subjektive Eindrücke und Gedanken ziehen an uns vorbei. Schnell geht es aus dem Kopf des Landvogts (draußen der böse Gessler, drinnen der liebende Familienvater) zur Zugehfrau vom Pfarrer Furrer, zu Walter, zur Grosi Marie. Langsam entwickelt sich der rote Faden in der Collage. In der Tat liest sich das streckenweise wie ein Script. Der Leser kann den Eindruck bekommen, dass er nicht auf seinem Sofa sondern auf einem Schneidetisch in Hollywood oder Potsdam/Babelsberg liegt. Sind Tempo und Bewegung wirklich so wichtig für diese Geschichte? Nein. Warum hat der Autor diese Erzählweise gewählt hat, keine Ahnung. Hat er etwa der Geschichte nicht getraut? Diese Gefahr besteht zu keiner Zeit. Stoff und Text tragen. Für uns Zivilisationsleichen ist die Rückfahrt ins 13. Jahrhundert eine heftige, und Schmidt erspart uns nichts. Keine Gewalt, keine Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid, keine Schlechtigkeit, kein Blutvergießen, keinen Mord. Und immer wieder spüren wir Wut, Wut, Wut – vor allem bei Wilhelm, der Protagonist, der im ganzen Text auffällig selten zu Wort kommt. Er spricht generell wenig, ist ein Mann der Tat. Braucht die Einsamkeit, die Wälder, wohl immer noch auf der Suche nach dem Bruder. Der Mann ist ein unberechenbares Pulverfass, kräftig wie ein sprichwörtlicher Bär, cholerisch und gewalttätig, auch gegen Walter. Die Kernszene, die Situation mit dem Apfel lässt ihn wortlos. Den zweiten Pfeil hat er eingesteckt.

Wir erfahren viel über die stets präsente Soldateska, die Handlanger der Habsburger, der verhassten Besatzungsmacht. Besoffene Dumpfbacken, verblödete Landsknechte, die in ihrem Rausch und stumpfer Grausamkeit ohne Wissen und Absicht den Plot treiben. Bis sie fast alle im See ersaufen, samt Ladung und Geisel. Vermeintlich.

Ab der Mitte des Textes scheint Heutiges durchzuschimmern. Dinge, die schon immer so waren? Die Wilhelms Wut erklären? Es braucht Geduld, bis sich auch hier die Bilder zusammenschieben. Und es wäre nicht Joachim B. Schmidt, wenn er nicht zum Ende auch nochmal mit einem Augenzwinkern klar machte, dass er doch gründlich ins Geschichtsbuch geguckt hat.