Held wider Willen

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Joachim B. Schmidt nimmt sich die Sage um den Schweizer Freiheitskämpfer Wilhelm Tell zur Brust. Und ich gestehe … ich wusste bisher so gut wie nichts über Tell. Armbrust, Apfel. Asche auf mein Haupt. Aber das war’s leider schon. Vor der Lektüre habe ich erst mal meinen besten Freund Wikipedia befragt und mir das Wichtigste angelesen. Über den Mann, der wohl nie wirklich existiert hat, aber zum Schweizer Nationalhelden wurde, indem er den tyrannischen Habsburgern die Stirn bot. Schillers gleichnamiges Drama hat den Mythos besiegelt.

Die zentralen Aspekte der Legende hat Schmidt alle berücksichtigt, ansonsten aber viel dazugedichtet und umgedeutet. Emotionaler Höhepunkt ist die bekannte Szene: Demnach lässt der habsburgische Landvogt Gessler (bei Schmidt sind es dessen brutale Handlanger) einen Hut auf eine Stange legen und befiehlt den Einheimischen, diesen jedes Mal zu grüßen, wenn sie an ihm vorübergehen. Tell weigert sich und der Vogt zwingt ihn daraufhin zur Strafe, mit der Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schießen.

Ob die Verlagswerbung à la „Blockbuster“ und „Thriller“ die Sache treffend beschreibt, sei mal dahingestellt. Ein Pageturner ist „Tell“ aber durchaus. Schmidt legt ein äußerst fesselndes, nahegehendes, aber auch überraschend kurzweilig zu lesendes Familiendrama vor.

Sein Tell ist ein Freiheitskämpfer wider Willen, der in seine Rolle hineingetrieben wird, ansonsten aber ein verschlossener Sonderling ist. Zwar versorgt er die Familie – Mutter, Schwiegermutter, Frau und Kinder -, trägt aber selbst tyrannische Züge. Vor allem Walter gegenüber, dem Sohn seines verstorbenen Bruders Peter, ist er ungerecht und unbeherrscht. Seine schroffe Art ist es auch, die Harras, die rechte Hand des Landvogts Gessler gegen ihn aufbringt, was schließlich zum Apfelschuss führt.

Beeindruckt hat mich, wie Schmidt mit seiner verknappten Art des Schreibens, eine ganze Szenerie vor dem inneren Auge entstehen lässt. Auf nicht mal 300 Seiten, unterteilt in zehn Kapitel, kommen jeweils unterschiedliche Charaktere zu Wort, die die Geschichte zackig vorantreiben und ein faszinierendes Kaleidoskop verschiedener Perspektiven entstehen lassen. Die Sequenzen sind manchmal nur ein, zwei Seiten lang. Trotzdem fühlte ich mich nicht gehetzt, sondern empfand die Übergänge als natürlich und den Ton authentisch. Von Tells Mutter, zu dessen Sohn, zum Pfarrer, zum Landvogt usw. werfen sich die Beteiligten sprichwörtlich die Bälle zu und bieten ein deutliches Bild von Zeit und Ort, Beziehungen und Persönlichkeiten. Tell selbst kommt übrigens erst ganz am Ende zu Wort.

Schmidt beherrscht auch die Kunst, die Dimension des Leids, das körperliche wie das seelische, präzise zu formulieren, ohne sich ellenlang darüber auszulassen. Wenn Gesslers Männer über die Schweizer Bauern herfallen, plündern, morden, vergewaltigen und verstümmeln (wir befinden uns ja im Mittelalter!) reicht Schmidt oft ein Halbsatz, um das Grauen greifbar zu machen, sogar seitens derjenigen, die es verursachen. Chapeau!

Ich bin in dem Buch wirklich versunken, habe mich in die Schweizer Bergwelt versetzt gefühlt, mit den Bauern gelitten und mit Tells Familie um die Existenz gebangt. Den Dreh am Ende, wenn Schmidt zu einer Erklärung für Tells Eigenbrötlertum, seinen Zorn und seine Wildheit übergeht, hätte es aus meiner Sicht nicht unbedingt gebraucht. Er macht das Familiendrama aber rund und wird glaubwürdig integriert. In gewisser Weise wird sogar eine Brücke in die aktuelle Zeit geschlagen.

Nett wäre vielleicht ein Nachwort mit einer geschichtlichen Einordnung bzw. einigen historischen Fakten, gewesen, die im Buch kaum Erwähnung finden. Dann hätte ich mir auch Wikipedia sparen können. Aber das ist schon Jammern auf hohem Niveau.

Fazit: Der Mythos Wilhelm Tell eingebettet in ein unterhaltsames Perspektiv-Ping-Pong und ein berührendes Familienschicksal. Mein kümmerliches Allgemeinwissen, das sich vor dem Lesen auf Armbrust und Apfel beschränkte, bedankt sich für eine bewegende, turbulente Nachhilfestunde in Sachen Literatur und Geschichte.