Tell als rachevoller Einzelkämpfer

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missmarie Avatar

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Der Stoff um den Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell hat so manchen Schriftsteller zu Sagen, Dramen und andern Texten motiviert. Das bekannteste ist sicherlich Schillers Drama. Joachim Schmidt greift in seinem Roman die Legende um den Bergbauern wieder auf und präsentiert eine archaische Bergbauernwelt. Dabei klärt er viele Fragen, die Schillers Drama offen lässt. Die politischen Aspekte kommen allerdings zu kurz.

Zum Inhalt:

Aus wechselnder Perspektive wird von Tell und seiner Familie berichtet, die ein einfaches Bergbauernleben führen, geprägt von den damit verbundenen Mühen. Schmidt legt viel Wert darauf, die familiären Beziehungen und Verluste aufzudecken. Tells Bruder Peter ist nach der Jagd "im Berg geblieben". Tell selbst übernimmt fortan die Verantwortung für Peters Frau und ihr ungeborenes Kind. Mit diesem Jungen Walter wird er nicht recht warm, sieht er doch zu viel von seinem Bruder in ihm. Doch nicht nur Tells Verluste werden aufgezeigt. Auch seine Frau Hedwig, Tells Mutter, der Pfarrer aus dem Dorf oder der junge Rekrut der Habsburger haben ihren Verlust zu tragen und an ihrer Geschichte zu nagen. So erzählt Schmidts "Tell" zwar auch von einem Freiheitskämpfer, aber vor allem erzählt er über Beziehungen zwischen den Generationen, von Verlust, von Heimat und der Suche nach Glück.

Natürlich sind die typischen Tell-Szenen auch hier zu finden: Der Apfelschuss als Höhepunkt, die Überfahrt über den Vierwaldstätter See bei Sturm und das Attentat auf den Landvogt Gessler kommen vor. Jedoch gibt Schmidt ihnen ganz eigene Interpretationen, in denen die raue Bergwelt in der Gewalt ihrer Bewohner noch einmal mehr gespiegelt wird.

Meine Meinung:

Der Perspektivwechsel tut dem Tell-Stoff sehr gut. Zurecht wird im Klappentext von spielfilmartigen Szenenwechseln gesprochen, wenn die Erzählung mal von Gessler, mal von Hedwig oder von einem Außenstehenden übernommen wird. Die Empathie, die man (fast) allen Figuren entgegenbringt, wächst dadurch enorm. Außerdem gelingt es Schmidt so, vielen Figuren eine Vorgeschichte zu geben, die sie deutlich plastischer werden lässt. Für gelungen halte ich auch die vielen kleinen Detailänderungen, die der Autor vorgenommen hat. Das Thema Missbrauch in der Kirche wird zum Beispiel eingebaut, neue Figuren (z.B. ein isländischer König) treten auf und alles fügt sich in Schmidts große Themen: Die raue Bergwelt und die Beziehungen zwischen den Bewohnern selbiger. So liest sich der Roman um einiges spannender und flüssiger als das Drama Schillers. Auch das Entstauben der Sprache tut dem Inhalt gut.

Dennoch möchte ich nur eine eingeschränkte Leseempfehlung geben. Zum einen war mir die Handlung stellenweise zu sadistisch und blutig. Wie genau ein Bolzen aus einem Körperteil herausragt, möchte ich dann doch nicht wissen. Und auch einige Andeutungen weniger hätten die Grausamkeit des Schergen des Landvogtes ebenso plastisch werden lassen. Das war mir ein wenig zu gewollt grausam.

Zum anderen fehlt mir hier der politische Aspekt. Die Bergbauern sind in Schmidts Darstellung seltsam passiv. Sie ertragen ihr Schicksal und die Fremdherrschaft. Sich aufzulehnen - das traut sich keiner. So gibt es weder eine Eidgenossenschaft, noch irgendeine Form von Widerstand unter den Bewohnern. Tell wir so zum Einzelkämpfer auf einem persönlichen Rachefeldzug. Zwar gibt Schmidt in der Schlussszene eine Begründung für die fehlenden politischen Bezüge: Zumindest aus Sicht seiner Figuren scheint die Eidgenossenschaft und die Politik später hinzugedichtet worden zu sein und entspricht nicht der Wahrheit. Ich kann durchaus nachvollziehen, was einen Autoren (noch dazu einen gebürtigen Schweizer) dazu bewegen mag, Tell vom politischen Mythos zu befreien. Dennoch fehlt meiner Ansicht nach so ein Teil der Erzählung.

Fazit:

Schmidts "Wilhelm Tell" schafft ein großes Identifikations- und Empathiepotential mit allen Figuren der Handlung. Die Adaption des Mythos-Stoffes ist durchaus gelungen, wenn auch der politische Aspekt viel zu kurz kommt.