Tell me from Tell

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angie99 Avatar

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Tell? Kenn ich.
Tell, das ist in meinem Kopf verknüpft mit: langweiligem Geschichtsunterricht / der Armbrust, die unser Primarlehrer über seinem Pult hängen hatte / der obligaten Klassenfahrt nach Altdorf / schwer zugänglichen Schiller-Reimen / Abwandlungen derselben: „Durch diese Hose muss er gasen…“ / noch einem Ausflug, nämlich zur Hohlen Gasse / einer Filmparodie und einigen Werbesprüchen…

Tell, das ist in meiner Schweizer Birne Faszinosum und Abneigung zugleich.
Deshalb: Tell? Kenn ich.
Einen neuen Tell? Brauch ich nicht.
- Oder doch? (Vielleicht gerade deswegen?)

Vorweg, meiner langen Liste dieses Buch von Joachim B. Schmidt hinzuzufügen, hat nicht geschadet, sondern meinen bergigen Horizont um eine sehr menschelnde Version erweitert.
Diese erfindet zwar das Rad nicht neu, kleidet den Herrn Wilhelm Tell jedoch in ein modernes und authentischeres Gewand als seine Vorgänger.

In kurzen Kapiteln und schnellen Sätzen entwirft Schmidt ein atemraubendes Panorama über das Leben „anno Tobak“. Jahreszahlen verwendet er keine; so hängt der historische Hintergrund an ein paar dünnen Fäden, in dem die handelnden Personen in habsburgische Besetzer und einheimische Bauern eingeteilt, Hellebarden und Armbrüste erwähnt werden. Das erschien mir dann leider doch etwas dürftig, gerade für Leser:innen, die über die Entstehung der Eidgenossenschaft vielleicht nicht so intensiv belehrt worden sind wie ich in meinen jungen Jahren.

Der Hauptmerk liegt eindeutig auf den Charakteren. Jede Figur erzählt in der Ich-Form, die einzelnen Mitglieder der Familie Tell kommen zu Wort, so wie auch der Dorfpfarrer, der Landvogt Gessler, seine rechte Hand Harras und seine Soldaten. Nach wenigen Seiten schon wieder ein Sichtwechsel, das hört sich anstrengend an, doch die einzelnen Figuren haben so viel Wiederkennungswert, dass man sie gut unterscheiden und der Handlung problemlos folgen kann. Schmidts Charakterisierungen wirken authentisch, es ist ein emotionales Leseerlebnis, das einen nur so durch die Seiten fliegen lässt. So entsteht ein Bild aus kleinen Mosaiksteinchen, wie die Geschichte um den Bauern und passionierten Jäger Wilhelm Tell hätte passieren können. Er selbst kommt erst gegen Ende zu Wort.

Als ziemlich hartherziger Grobian wird er beschrieben und damit – sehr bewusst – nicht als die typische, charismatische Heldenfigur aus der Überlieferung. Und nicht nur das, der Autor schreibt auch den Großteil von Tells angeblichen Heldentaten einigen dummen Zufällen und noch dümmeren Soldaten zu.

Hier ist mir leider das Bild der Besatzungsmacht etwas zu schief geraten. Die Charakterisierung Gesslers versteift sich allzu sehr darauf, dem störrischen Tell einen sanftmütigen Kontrahenten gegenüberzustellen, um das Heldenbild zusätzlich in Frage zu stellen. Zum Glück hat er Harras an der Seite, der mit seiner intensiven Brutalität noch ein bisschen von der Unterdrückung der Habsburger verkörpern kann. Alles andere verkommt nämlich eher zu einer Parodie.

Doch wahrscheinlich wollte Joachim B. Schmidt einfach nur zeigen, dass Tell eben doch nur ein sturer Bergbauer war und eher „cool durch Zufall“.
Tell als Mensch mit einigen Stärken und (vor allem) erheblichen Schwächen.
Tell als Glied einer Kette von familiären und dorfgemeinschaftlichen Reaktionen und Schicksalen.
Tell als Seifenoper. –
Und das gelingt ihm ganz gut.

Fazit: Ein rasantes, durch verschiedene Blickwinkel erzähltes Drama, das Tell als Mensch und nicht als Held (v)erklärt, aber mager an historischen / kulturellen Hintergründen.