Tells große, traurige Wut

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
scarletta Avatar

Von

Eigentlich ist das Cover dieses Romans ein perfektes Literatur-Piktogramm. Was fällt einem sofort bei einem Apfel im literarischen Bereich ein? Gut, griechische Mythologie, Märchen… na… genau – Wilhelm Tell.

Passend dazu hat sich dem Schweizer Nationalhelden diesmal der im Schweizerischen Kanton Graubünden geborene Joachim B. Schmidt angenommen, der seit 2007 auf Island lebt. Ein Stück Island durchwebt auch sein neuestes Werk.
Inspiriert von der modernen Neubearbeitung alter isländischer Sagas – z.B. Einar Kárason und seiner Version der Sturlungen-Saga - hat er sich mit Tell den Helden seines Geburtslandes vorgeknöpft. Schmidt wischt das umfangreiche Bühnenwerk des Friedrich Schiller beiseite und legt die alte Grundstruktur wieder frei.

Vom Mythos und Glorifizierung befreit, sehen wir Wilhelm Tell als einen sehr einfachen in sich zurückgezogenen Bergbauern auf einem äußerst kargen, einsam gelegenen Hof. Er hatte manche Schicksalsschläge zu verkraften, die ihn formten. Weder seinem Umfeld noch seiner Familie macht er es leicht, ihm Sympathie entgegenzubringen. Doch im Grunde will Tell nur seinen Lebensunterhalt erarbeiten und mit seiner Familie ein einigermaßen sicheres Leben führen. Er wildert aus der Not heraus, ohne schlechtes Gewissen. Doch auch er gerät in die Fänge der Soldateska der Habsburger Machthaber, von der die einfache Bevölkerung drangsaliert, gequält, beraubt oder vergewaltigt wird.

Und irgendwann hängt da der Hut des Landvogts, vor dem Tell den „Kotau“ unterlässt. Der Sohn, die Armbrust, zwei Pfeile, der Apfel. Das wussten wir schon, aber der Rest ist eigentlich viel bedeutender.

Um seine Protagonisten und die Handlung zu beschreiben, benutzt der Autor eine recht moderne Erzählweise, die andererseits aber auch archaisch wirkt. Erzählt wird ziemlich konsequent aus der Ich-Perspektive. Aber es tritt hier nicht nur eine einzelne Erzählperson auf, sondern gleich derer ungefähr zwanzig. Denn alle Charaktere, egal ob Randfiguren oder zentrale Figuren, erhalten das Wort. Auf diese Weise erlebt man das Geschehen sehr persönlich aus verschiedensten Blickwinkeln und Sichtweisen. Zudem lernt man die jeweilige erzählende Figur der Geschichte sehr intensiv kennen. So erlebt man Tell von allen Seiten. Auch ihm selber wird später die Möglichkeit gegeben, sich zu äußern.

Tatsächlich steigert diese Erzählweise die Spannung ungemein. Sie kommt so ohne weitschweifige Erklärungen aus. Das Geschehen wird sehr gegenwärtig auch schmerzvoll spürbar. Man fühlt sich durchaus an die Kameraführung eines äußerst bewegten Filmes mit kurzen, schnellen Cuts erinnert. Die Handlung rast, es gibt kein Entkommen.

Die Protagonisten wirken sehr authentisch und nahbar. So schält sich aus den Erzählungen und Perspektiven der verschiedenen Personen allmählich heraus, was Tell zu diesem zeitweise verstörend wirkenden, wortkargen, gebrochenen Mann werden ließ.
Als Leser*in bekommt man im Laufe der Handlung immer mehr Mitgefühl für Tell.

Fazit

Eigentlich habe ich das Thema für recht angestaubt gehalten. Aber von der ersten Seite an übte diese Erzählweise auf mich eine Sogwirkung aus. Die verschiedenen Sichtweisen der Charaktere offenbaren die extremen Lebensbedingungen, den archaischen Alltag im Gebirge unter dem Druck der grausamen österreichischen Obrigkeit. Die raue, archaische Landschaft und der harte Alltag dort werden zu zusätzlichen Gegenspielern der Protagonisten.

Mich hat sehr bewegt, auf diese Weise nachvollziehen zu können, was einzelne Menschen zu ihren Handlungen bewegt und wie sie mit ihren persönlichen Hintergründen das Geschehen erleben. Das machte für mich die Geschichte sehr stimmig, spannend, überaus modern und zu Herzen gehend.
Ja, so könnte sich die Geschichte in der Realität zutragen haben. Eine Geschichte, die auf diese Art erzählt noch heute unter die Haut geht.

Ein Buch, das man unbedingt gelesen haben sollte.