Toll umgesetzt

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Als in einer Diogenes-Bloggerveranstaltung das Buch „Tell“ vorgestellt wurde, fühlte ich mich augenblicklich in meine Schulzeit zurückversetzt. In der Mittelstufe lasen wir im Deutschunterricht immer mal wieder bekannte Werke, was bei mir dazu führte, dass ich gar keine Lust mehr auf das Lesen hatte. Der Zwang in der Schule hatte mir meine frühere Lesefreude komplett genommen. Das einzige Buch aus der Mittelstufe, das mir positiv im Gedächtnis blieb, war „Tell“. Die berühmte Apfelschuss-Szene hat mich total fasziniert. Genau so erging es mir nun wieder, als ich erfuhr, dass Joachim B. Schmidt dieses Werk aufgreift.

Das Cover ist, wie im Diogenes Verlag üblich, schlicht gehalten. Ein roter Apfel prangt stilisiert auf einem gelbgrünen Untergrund. In meinen Augen eine gelungene Covergestaltung, weil für mich der Apfel genau das ist, woran ich denke, wenn ich „Tell“ höre. Die Geschichte ist in zehn Kapitel gegliedert, in denen die Perspektiven von 20 Protagonisten dargestellt werden. Zur Einleitung der Kapitel gibt es jeweils eine besondere Anmerkung, die meist philosophisch anmutet.

Der originale Tell war schon im Jahr 1803/1804 ein Charakter in dem bekannten Werk von Friedrich Schiller. Während Wilhelm Tell damals als Held und Kämpfer dargestellt wurde, liegt der Fokus bei Joachim B. Schmidt anders. Hier ist Tell ein verschrobener Kautz, von seinem Leben als Bauer gezeichnet. Er sehnt sich nach einem ruhigeren Leben. Hin und wieder etwas kleinkariert versucht er, rechtschaffend durchs Leben zu gehen und seine Familie zu schützen.

Der Einstieg ins Buch war für mich erstmal nicht so leicht. „Tell“ war eben schon mit den Erinnerungen an Schillers Werk gefüllt. Im ersten Kapitel lernen wir insgesamt sechs Protagonisten kennen – da musste ich erstmal hinterherkommen und mich in ihre Perspektiven eindenken. Ebenso musste ich mich erst an die Lebensumstände im 13./14. Jahrhundert gewöhnen – die Zeit, in der Tell gelebt haben soll. Die soziale Ungerechtigkeit und die schlechte Versorgung der Menschen war mir so nicht mehr in Erinnerung. Joachim B. Schmidt ist es gelungen, dieses Setting sehr real und anschaulich zu beschreiben, was mich immer wieder in Staunen versetzt hat. Obwohl vieles unvorstellbar ist, konnte ich mich nach einer Weile gut in die Handlung hineinversetzen.

Im Gegensatz zu „unserem“ Tell (Wilhelm) ist sein Bruder unterhaltsam und aufgeweckt. Beide geraten in ein Lawinenunglück, dass folgenschwere Konsequenzen nach sich zieht. Dazu kommt die schwierige politische Situation – der Adel nutzt seine Stellung aus, um zu plündern und zu schänden. Wilhelm weiß, dass auch ihn dieses Verhalten treffen wird, doch er ist nicht bereit, sich zu beugen. Er ist fest entschlossen, seine Familie zu beschützen, auch unter Verwendung seiner Armbrust.

Nachdem „Kalmann“ von Joachim B. Schmidt mir so gut gefallen hatte, war ich gespannt auf sein neuestes Werk. Dass er sich dazu ausgerechnet an „Tell“ heranwagt, hat das Ganze nur spannender gemacht – denn da hatte ich meine eigenen Assoziationen. Mir hat es gut gefallen, dass die Sprache zeitgemäß ist, sodass das Lesen sehr flüssig voranging. Nachdem der Klappentext einen Blockbuster versprach, waren meine Erwartungen hoch. Für mich ist die Bezeichnung nicht ganz treffend, aber im Kern stimme ich zu: Das Erzähltempo ist rasant, viel unterhaltsamer als bei Schiller. Die vielen Protagonisten bereiteten mir anfangs Kopfschmerzen, aber ich fand mich schneller ein, als gedacht. Und von da an war das Lesen sehr unterhaltsam. Wilhelm Tell ist mir immer mehr ans Herz gewachsen und ich war froh, ihn noch einmal begleiten zu dürfen.

Insgesamt hat mir „Tell“ aus der Feder von Joachim B. Schmidt richtig gut gefallen. Obwohl die damaligen Umstände ganz anders sind als die heutigen, ist das Thema immer noch aktuell. Die Länge von 283 Seiten ist angenehm, Längen sind nicht vorhanden. Von mir gibt es eine Leseempfehlung – auch für diejenigen, die Schillers Tell nicht gelesen haben.

– Meine Bewertung: 4 von 5 Sternen –