Ein fremdes Land

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delizzy Avatar

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Nilufar ist Halb- Iranerin und hat noch niemals das Land ihres Vaters besucht.
Dieser war in ihrer Kindheit in sein Heimatland zurückgekehrt, um nach gescheiterten deutschen Geschäftsgründungen im Iran doch noch sein Glück zu finden.
Nun, als Rentner, drängt er seine Tochter, endlich ihn und die gesamte Verwandtschaft in Iran zu besuchen, was bisher sowohl die deutsche Mutter als auch politische Umstände verhindert haben.

Ich habe mit Nilufar mitgefiebert, ob es kompliziert sein würde, eine Einreisegenehmigung zu erhalten und wie sich die Zeit in Iran dann für sie gestalten würde.
Einen Teil der Verwandschaft kannte sie von einigen wenigen, schon länger zurückliegenden Besuchen mit dem Vater und so ist ihre Reise nicht nur ein Wiederfinden der familiären Beziehungen, sondern auch eine Suche nach sich selbst.
Die Zerrissenheit, mit der sich Nilufar offenbar herumschlägt, offenbart sich in selbstzerstörerischen Aktionen in den Berliner U-Bahnen, wenn sie Leute proviziert, um geschlagen zu werden. Diesen Aspekt ihrer Persönlichkeit konnte ich absolut nicht nachvollziehen, insbesondere da sie Psychologie studiert hat. (Oder gerade deswegen??)

In Iran angekommen findet sich Nilufar sofort in den engmaschigen und komplexen Verbindungen der Großfamilie und wird wochenlang weitergereicht, hingefahren, gebracht, geholt und begleitet. Man ist dort nie allein, man hat keinerlei Auszeiten, es herrscht irgendwie immer Aktionismus, obwohl gleichzeitig nicht wirklich etwas zustandegebracht wird.
Die Autorin schafft es, diese für westliche Europäer ziemlich komplizierte, fremde, intensive Welt anschaulich zu beschreiben und ich fühlte mich oft wie sie selbst im Netz der Familie gefangen, die es gut meint, aber es sich durch viele verworrene Streitereien, Abhängigkeiten und Lügen selbst schwer macht.
Anscheinend ist eine iranische Großfamilie nicht nur für Insider recht schwer greifbar!
Frustriert ist Nilufar durch die vielen Regeln für Frauen im öffentlichen Leben, befeuert durch teils falsche Informationen, die Sittenpolizei, die mal wegschaut und dann wieder streng durchgreift und teils widersprüchliche Vorgaben ihrer eigenen weiblichen Verwandten.
Gegen Ende der Reise gipfelt der mehrwöchige Besuch in einer Eskalation mit dem Vater und einer gefährlichen Aktion Nilufars, was ich hier nicht spoilern möchte.
Nach dem Lesen des Buches bleibt ein Beigeschmack von Verwirrung, Zerrissenheit und unbeantworteter Fragen, die sie wieder nach Berlin mit nach Hause nimmt.

Anstrengend fand ich anfangs die verschiedenen Zeitebenen: Nilufar im heutigen Berlin mit ihrer Partnerin, Nilufars Kindheit in Gießen, Erinnerungen des frisch eingewanderten Vaters in den Sechzigern als aufstrebender Ingenieursstudent und zwischendrin in schlechtem Deutsch verfasste sms, die ihr Vater ihr aus Iran schickt, um sie zum Besuchen zu bewegen.
Nach und nach fügten sich auch diese Schnipsel ins Bild, aber Nilufar scheint die Reise in den Iran nicht die Auflösung gebracht zu haben, die man sich für sie wünscht.

Der teils blumige, teils verwirrende Stil läßt manche Frage offen- ist dies wirklich passiert oder ist es nur ein Gedanke, der nicht in die Tat umgesetzt wurde?
Für mich waren diese Passagen manchmal verwirrend, haben aber letztendlich zum Thema des Buches gepasst: die Zerrissenheit der Protagonistin wird hier durch die Wortwahl ausgedrückt und lassen mich teilweise genauso verwirrt zurück, wie sich Nilufar über weite Stellen fühlt.

Fazit: ein durchaus lesenswertes Buch, das keinesfalls der leichte Reisebericht ist, den ich mir anfangs erwartet hatte, aber wenn man die manchmal (für mich zumindest) schwer nachvollziehbaren Passagen akzeptiert, ergibt sich ein ziemlich schlüssiges Gesamtbild, das mir zumindest im Ansatz einiges über diese fremde Kultur beigebracht hat.
Ich gebe 4 von 5 Sternen, ein kleiner Abzug wegen der teils verwirrenden und seltsam ausgedrückten Passagen, mit denen ich nicht sehr viel anfangen konnte, aber ein sehr spannender Bericht über den heutigen Iran und seine Probleme.