Kein leichter Wohlfühlroman

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marieon Avatar

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Nilufars Vater Khosrow kommt aus Iran, ihre Mutter aus Deutschland. Sie leben in Gießen in einer Plattenbauwohnung. In Khosrows iranischer Familie sind nahezu alle Ingenieure geworden, deshalb ist Khosrow sehr ambitioniert zu studieren. Sein letzter Versuch zur Nachprüfung steht an, aber an dem Tag kommt Professor Fenner einfach nicht.

Manchmal, wenn er nicht zum Fußballspielen mit den anderen Iranern ging, fuhr er extra mit dem Bus eine Dreiviertelstunde zum Bahnhof, um sich eine persische Zeitung zu kaufen. Dann atmete er für einen Moment die Luft aus der Siedlung aus, seine Augen waren zwei rot geschwollene offene Wunden. S. 43

Sie ziehen nach Rabenau, weil Khosrow glaubt, dort die besseren Geschäfte machen zu können. Er findet einen Platz in der Kommunalpolitik und vertreibt Oettinger alkoholfrei nach Iran, aber wegen des Embargos laufen die Geschäfte schlecht.

Nilufar fühlt sich in Deutschland falsch, in Iran fremd. Als alle Stricke reißen, verlässt ihre Mutter Khosrow und geht mit Nilufar zurück nach Gießen, dort ist für Nilufar alles aussichtslos.

Wir kannten die ganze Welt, und sie war grau, feuchtkalt und neblig, ein feiner Nieselregen in unseren Köpfen. Wir lehnten wie Statisten an einer Waschbetonwand, bliesen perfekte Rauchkringel in die Nacht und warteten ab. Unsere Väter waren weg, tot oder unbrauchbar. Wir waren Gespenster. S. 115

Als sie ihren Vater viele Jahre später endlich in Iran besucht, versucht sie sich ihr Land zu erschließen. Nilufar trägt Kopftuch, hat aber ansonsten Schwierigkeiten mit dem Kleidercodex. Ihre Cousine Narges berät sie. Enge Hose, langes weites Oberteil, keine Sandalen auf dem Basar, im Norden Teherans schon. Frauen leben für die Familie, sie kochen Essen und Tee, erziehen die Kinder, führen den Haushalt. Ob, wann und wohin sie vor die Tür gehen, bestimmt ihr Vater, oder Mann. Nilufar befindet sich in einer Matrix aus gesellschaftlichen Konventionen und Benimmregeln Die Familie spricht nicht mehr mit Hassan, Khosrows Bruder, weil der konservativ ist. Während Familienfesten redet Nilufar nur, wenn sie gefragt wird, und dann in angemessener Wortzahl. Die Frauen schneiden ihr Aprikosenstückchen und legen sie vor sie. Begrüßungen sind voller Floskeln.

Friede sei mit dir, du bist mein Bruder, mögest du nicht müde sein, entschuldige, meine Tochter ist zu Besuch, ich möchte ihr zu Ehren gerne ein Lamm schlachten. S. 196

Fazit: Die Autorin hat sich für eine Ich-Erzählung im Präsens entschieden, die Protagonistin ist sie Selbst. Sie fand die richtigen Worte, um mir die beklemmende Beziehung zu ihrem distanzierten Vater zu vermitteln, der sich lieber hinter einer Zeitung versteckt, als sich den schwierigen Fragen zu stellen. Ich spüre die Zerrissenheit aller Beteiligten, die Mentalität, die so anders ist als die kühle Deutsche, die voll von Paragrafen und Regeln ist. Nilufars Vater ist nie hier angekommen, obwohl er sich wirklich bemüht hat. Nilufar selbst ist völlig entwurzelt. Der Klang der Geschichte ist melancholisch. Es ist kein leichter Wohlfühlroman, ich musste mich sehr konzentrieren, um immer wieder rein zu kommen. Ich hatte meine Probleme mitzufühlen und dadurch die Geschichte mitzuerleben und weiß nicht woran es lag.