Leben am Abgrund

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botte05 Avatar

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Nicola Karlsson wirft mich ohne Vorwarnung mitten hinein in das Leben von Tessa. Ein Leben, welches mir völlig fremd ist, mir jedoch sofort sehr nahe geht. Ich verschlinge dieses Buch in drei Etappen, will mich versichern, dass alles gut wird, das Hilfe naht, möchte das Happy End herbeizwingen. Der Sommer ist vorüber, das Buch auch. Der Weg zum guten Ausgang könnte bereitet sein oder eben auch nicht.

Ich darf Tessa einen Sommer lang begleiten. Ich kenne Tessa nicht und lerne sie auch nicht wirklich kennen. Ich erfahre nicht, was sie vor Seite 1 gemacht hat und auch nicht, was sie nach der letzten Seite machen wird. Somit ist Tessa eigentlich irgendwer, durch jedwede Person ersetzbar. Sie sehnt sich nach Liebe, Wärme, Nähe und kann diese wiederum nicht ertragen. Am Schlimmsten ist die Einsamkeit, welche sie sowohl inmitten von vielen Menschen, als auch allein zuhause durch Tablettenmissbrauch, immensen Alkoholkonsum und Drogen zu vertreiben sucht. Wenn das Geld knapp ist, gelingt es ihr stets, durch einen Flirt an ihren Stoff zu gelangen. Dabei wird ihr Leben zu einer heiklen Gratwanderung, auf der sie immer wieder tief fällt, sich wieder aufrappelt; der mögliche nächste Absturz in bodenlose Abgründe jederzeit hautnah.

Tessa lebt inmitten einer völlig selbstbezogenen Welt. Mir erscheint Tessas desolater Zustand mehr als unübersehbar und doch scheint dies niemand zu bemerken. Sogar ihre Fachärztin stellt „einfach so“ ein weiteres Rezept aus. Den einzigen Menschen, der ihre Hilfsbedürftigkeit erkennt, stößt sie weg und so ist sie gezwungen, ihren Weg alleine zu finden, obwohl sie so sehr auf Hilfe hofft.

Kenne ich „Tessa“? Sitzt sie im Restaurant neben mir? War sie auf der Party am Wochenende? Bin ich sogar mit ihr verwandt? Ist es tatsächlich möglich, in unserer aufgeklärten Zeit völlig alleingelassen derart abzustürzen? Haben wir versäumt, der nächsten Generation Werte zu vermitteln und den Weg in ein glückliches, selbstbewusstes, lebenswertes Leben zu bereiten?

„Tessa“ ist ein unbequemes Buch für jeden, der bereit ist, „über den Tellerrand“ hinauszublicken und sich mit der mutmaßlich doch nicht fiktiven Realität in Nicola Karlssons packendem Debütroman auseinanderzusetzen.

Rezension: Nicola Karlsson, Tessa, Graf Verlag, Literatur, 304 Seiten, 18,00 €, Erscheinungsdatum: 09.09.2013