Fortschritt und seine Tücken

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Fast jeder von uns besitzt mittlerweile ein Smartphone und nutzt dieses täglich für diverse Dinge, sei es zum Teilen von Fotos, spielen, streamen, telefonieren, Nachrichten verschicken, Onlinebanking, shoppen… da mag man sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, das Gerät zu verlieren! Dmitry Glukhovsky spielt allerdings genau mit dieser Idee in TEXT und stellt seine Charaktere und Leser dabei vor schwierige Fragen bzw. Entscheidungen. Wie leicht kann man sich hinter einem Nutzernamen verstecken? Wie viel unseres Lebens spielt sich digital ab? Und wie lange lässt sich eine unausweichliche Katastrophe hinauszögern?

DER STUDENT UND DAS SCHWEIN
Sieben Jahre ist es zu Beginn von TEXT her, dass Ilja Goriunow zu unrecht ins Straflager geschickt wurde. Auslöser dafür war das Zusammentreffen mit dem „Schwein“, einem korrupten Polizisten namens Chasin, der Ilja aus Willkür Drogen unterschiebt und dafür verhaftet. Dieses Treffen beschäftigt Ilja fortlaufend und so hat er unter anderem aus der Haft heraus den Werdegang des Schweins über die sozialen Netzwerke verfolgt. Bei seiner Entlassung findet er statt einer zweiten Chance einen wahren Scherbenhaufen Zuhause vor, sodass eine wahnwitzige Idee in ihm erwächst: Was, wenn er das Schwein aufspürt und ihn zur Rede stellt? Könnte damit der Neubeginn gelingen?

"Wenn du einem Menschen die Jugend nimmst, um dich kurz zu vergnügen, wenn du für nichts und wieder nichts und wieder nichts aus seinem Leben das schönste Stück rausbrichst – dann zahl dafür." | S. 57

Da Chasin viel von seinem Leben online teilt, ist es ein leichtes ihn in Moskau zu finden. Wenig überraschend läuft dieses Treffen jedoch nicht gerade optimal und das Schwein stirbt. Iljas Scherbenhaufen vergrößert sich damit nur noch mehr, nur mit dem Unterschied, dass er jetzt Chasins Smartphone besitzt – und diese Waffe gilt es zu nutzen, um doch vielleicht endlich die Wende zu schaffen.

FORTSCHRITT UND SEINE TÜCKEN
Glukhovsky nimmt sich zu Beginn die Zeit, Ilja und seine Lage ausführlich in TEXT vorzustellen, sodass es erstmal einen Moment braucht bis es zu dem eben beschriebenen Punkt kommt. Während des Lesens hat mich das noch etwas gestört, da der Beginn dadurch fast schon zu ruhig wirkt, im nachhinein konnte ich das unausweichliche Abgleiten Iljas‘ so aber besser nachvollziehen. Man lernt ihn kennen und sympathisiert ob seiner Situation leicht mit ihm. Nur ist seine Tat damit gerechtfertigt, dass er ja bereits gebüßt hat? Ist er im Recht, wenn er das Smartphone nutzt, um Chasin quasi am Leben zu halten, und sich damit Familie, Freunde und die Polizei vom Leib hält? Kommt es vielleicht eher darauf an, wie er das Smartphone nutzt? Gerade letzteres ist spannend zu lesen, da Ilja in den sieben Jahren seiner Haft einiges an technischer Entwicklung verpasst hat. So kennt er zwar Smartphones, muss aber diverse Funktionen und Apps erstmal erschließen.

"Alle waren bereits im Heute, Ilja beendete noch sein Gestern." | Seite 131

Chasins‘ Beziehungen und Leben sind dazu wie ein abstraktes Puzzle, das es zu entwirren gilt, wobei Anrufe oder ein niedriger Akkustand Ilja vor diverse Probleme stellen. Das Smartphone ist sowas wie der dritte Hauptcharakter in TEXT, wobei es Glukhovsky erstaunlich gut gelingt diese Technologie und seinen Roman an sich zeitlos zu halten. Ein Smartphone mit Apps und Ladebuchse, sonst gibt es keine nennenswerten Anhaltspunkte für den zeitlichen Spielraum; wir könnten uns gefühlt genauso gut in 2026 als in 2016 befinden.

WAS BLEIBT
Dank dem Smartphone öffnet Ilja ein Fenster in Chasins‘ Welt, die ihre eigenen Schwierigkeiten hat. Je mehr Ilja sich darin vertieft, desto mehr braut sich das Unheil über ihm zusammen, wobei ich auf die Auflösung dazu sehr gespannt blieb. Schafft Ilja es am Ende doch noch alles zum Guten zu wenden? Es gab kurz vorm Schluss ein paar Entscheidungen des Charakters, die gefühlt aus dem Nichts kamen, und das Ende hat mich tatsächlich recht wütend zurückgelassen – aber es ist eines, das noch lange im Kopf bleibt und einen selber reflektieren lässt.

"Es gibt Menschen, von denen bleibt etwas, und von anderen Menschen bleibt nichts." | Seite 367