Poesie ohne Wortakrobatik

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sursulapitschi Avatar

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Selten habe ich ein wirklich gutes Buch so ungern gelesen. Dieses Buch ist schmerzvoll, verzweifelt, gespickt mit plastischer russischer Tristesse, das Lesen tut weh.

Ilja war sieben Jahre lang in einem russischen Straflager, wegen nichts, nur weil ein böswilliger Polizist seine Macht demonstrieren wollte. Er war erst 20 Jahre alt, als das passierte, sein Leben vorbei, bevor es anfangen konnte.
Als er wieder nach Hause kommt, ist seine Mutter frisch verstorben und die Wohnung geplündert. So hatte er sich das nicht vorgestellt. In seiner Verzweiflung tötet er den Polizisten, der ihm das alles eingebrockt hat. Jetzt hat er noch mehr Probleme, aber Petjas Handy hat er auch, ein nagelneues IPhone, das klingelt und brummt und summt. Soll er drangehen, Nachrichten beantworten? Vielleicht kann er Petjas Tod noch eine Weile geheim halten.

Eine verrückte Situation, die hier absolut plausibel entwickelt wird. Man sieht die Welt mit Iljas Augen und was er tut ist falsch, aber man kann ihn verstehen und leidet mit.
Immer tiefer verstrickt er sich in Petjas Angelegenheiten.

„Er konnte nicht entwischen, sich nicht herauswinden. Sie finden ihn, pulen ihn heraus, zerren ihn hervor. Er entging der Vergeltung nicht. Sie kommt, unbedingt.
Und was ist mit meinen sieben Jahren, rief er ihr zu: Wofür war das die Vergeltung? Alles Unsinn, niemand zahlt für irgendwas, und es gibt auch keine Belohnung. Gottes Waage ist gezinkt, und Gerechtigkeit ist eine Erfindung der Menschen, damit sie sich nicht völlig zerfleischen.“

Dmitry Glukhovskys Sprache ist gewaltig. Poetisch, ehrlich, eindringlich, manchmal derbe, immer tief treffend. Das ist Poesie ohne Wortakrobatik, authentisch, schwermütig, und wirkt dabei wie locker aus dem Ärmel geschüttelt. Echte Kunst.
Dieses Buch erzählt die Geschichte zweier Männer, deren Schicksal unheilvoll miteinander verknüpft wird und die dabei untergehen. Es erzählt aber auch von Russland, vom modernen Moskau in aller Zwielichtigkeit.
Man sollte sich nicht von der Kennzeichnung als Thriller in die Irre führen lassen, dieses Buch ist hohe Literatur.
Natürlich geht es um einen Mord, aber der Fokus liegt auf Iljas persönlicher Tragödie, die zeigt wie jemand durch Machtgier und ein korruptes System ins Unglück gerissen werden kann.
Und dann spielt es noch mit der Frage, können moderne Medien ein Leben ersetzen? Fakenews, Fakelife. Ist das denkbar?

Es ist kein Spaß, dieses Buch zu lesen, aber es ist ein Erlebnis und wird mir noch lange nachgehen.