4,5* Tiefgründiger, eindringlicher Coming-Of-Age-Roman

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lovely_lila Avatar

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* Vorsicht! Die Rezension enthält leichte Spoiler!*

~ Ein in wundervollem, detailreichem Schreibstil erzählter Coming-of-Age-Roman, der die Gedankenwelt und Probleme eines heranwachsenden Mädchens treffend und eindringlich beschreibt und zeigt, wie schnell ein von Langeweile und dem Gefühl der Bedeutungslosigkeit gequälter Mensch in die Fänge einer sektenartigen Gruppe geraten kann. ~

Inhalt

Im langweiligen Sommer des Jahres 1969 sehnt sich die 14-jährige Evie nach nichts mehr als danach, beachtet zu werden. Doch weder ihre geschiedenen Eltern noch ihre einzige Freundin schenken ihr Aufmerksamkeit. Eines Tages lernt sie dann jedoch „die Mädchen“ kennen – faszinierende, etwas schmuddelig aussehende junge Frauen, die Evie eine ganz unbekannte Welt zeigen. Zusammen mit ihrem Anführer Russell leben die Mädchen auf einer großen Ranch ihre Vorstellung von grenzenloser Liebe und Freiheit. Doch die Anbetung der Mädchen für Russell ist grenzenlos – für ihn gehen sie weiter als Evie je geahnt hätte…

Information

Erzählstil: Ich- Erzähler, Präteritum;
Perspektive: aus weiblicher Sicht (Evie)

Meine Meinung

Schreibstil

Der Schreibstil ist sehr ungewöhnlich, er wirkt viel reifer und "weiser", als man es von einer derart jungen Frau erwarten würde. Die Autorin geht sehr genau ins Detail, adjektivreiche Sätze und wundervolle Metaphern machen die Geschichte sehr anschaulich. Und auch, wenn die Autorin auch jene unansehnlichen Dinge aus dem Alltagsleben beschreibt, die man gerne ausblendet oder auslässt, haben ihre Sätze doch eine ganz betörende, faszinierende Schönheit und sind teilweise sogar richtig poetisch.

Mir hat der Schreibstil sehr gefallen, aber die vielen Details führen stellenweise dazu, dass man nicht so recht vorankommt, dass eine gewisse Flüssigkeit verloren geht, weil man sich in den Details verliert. Manche Leser könnte das stören.


"Sie bewegten sich in einem unbehaglichen Grenzbereich zwischen Schönheit und Hässlichkeit, und ein Schauer gesteigerter Aufmerksamkeit folgte ihnen durch den Park. Mütter schauten sich nach ihren Kindern um, bewogen von einem Gefühl, das sie nicht benennen konnten. Frauen griffen nach der Hand ihres Freundes. [...] die Vertrautheit des Tages wurde gestört von der Bahn, die die Mädchen durch die normale Welt zogen. Geschmeidig und gedankenlos wie durch das Wasser gleitende Haie." Seite 8


Idee & Themen

Die Geschichte der Autorin ist von jener um Manson inspiriert, eine solche Idee hat natürlich viel Potential. Allerdings erzählt Emma Cline die Geschichte auf ungewöhnliche Weise. Immer wieder springt die Geschichte von der Gegenwart die Vergangenheit, woran man sich erst nach einer Weile gewöhnt. Evies Leben damals und heute wird in teilweise nur wenige Zeilen kurzen Episoden, Eindrücken und Geschichten erzählt, nicht immer hängen diese Abschnitte eindeutig zusammen.

Auch wenn es laut Klappentext hauptsächlich um die Ranch und Russells Anhänger geht, so steht doch noch etwas ganz anderes stark im Vordergrund: das Erwachsenwerden eines Mädchens mit all den zugehörigen Problemen. In diesem Coming-Of-Age-Roman schafft es Emma Cline, Dinge zu beschreiben und auszuformulieren, die viele Menschen (im besonderen Mädchen) wohl selbst in diesem Alter empfinden oder denken, aber nie in Worte gepackt haben. Sie trifft dabei mit ihren Sätzen oft auf beeindruckende, erhellende Weise auf den Punkt, so dass ich mir als Leserin oft dachte: „Ja, stimmt, genau so ist es!“

Spannung

Durch die vielen Details kam ich stellenweise langsam voran, denn das Beschriebene will ja im Kopfkino auch lebendig werden. Obwohl es nie wirklich langweilig wurde, waren es mir in seltenen Momenten zu viele Details, weil dadurch viel Tempo verloren geht. Selten hätte es mir gefallen, wenn man etwas gekürzt hätte.

Dennoch zieht sich durch das ganze Buch eine düstere, unheilvolle Grundstimmung, weil man als Leser unbedingt erfahren will, wie es zu den Ereignissen kam und wie Evie da hineingeraten konnte. Zusätzlich hat mich Evies pessimistische, ehrliche Gedankenwelt sehr fasziniert.

Personen

Nur die Bewohner der Ranch blieben stets etwas ungreifbar, was aber bestimmt Absicht war. So konnte eindrucksvoll gezeigt werden, dass die Mädchen in einer Blase aus Drogen, Anbetung und Russells Ideengut leben, die mit Evies gewohnter Welt nur wenig zu tun hat. Alle anderen jedoch sind gut ausgearbeitet, auch wenn die meisten der Personen wie zum Beispiel Evies Eltern seltsam fremd bleiben, vermutlich weil sie das für Evie auch oft sind.

Evie fand ich eine wundervolle, unaufgeregte Protagonistin, die mir stellenweise wirklich leidgetan hat. Vierzehn Jahre ist ein schwieriges Alter, weil man sich gerade an der Grenze zwischen Kind und Jugendlichem befindet und sich oft schon älter und reifer fühlt, als man von der Umwelt eingestuft wird. Der Körper verändert sich, Zeitschriften provozieren Unsicherheiten und bieten dazu gleich verschiedene fragwürdige Lösungen an – eigentlich hat sich seit damals nicht viel verändert, was das betrifft. Dass gerade ein Mädchen wie Evie, die so wenig Aufmerksamkeit und Beachtung bekommt, für eine solche „Bewegung“ anfällig ist, verwundert nicht. Die grenzenlose Freiheit wirkt oft verlockend für jene Kinder, die aus einem wohlhabenden, aber langweiligen Elternhaus kommen, in dem Wärme fehlt. Ich mochte ihre ehrliche, nachdenkliche und unglaublich schonungslose Art zu erzählen sehr. Traurig fand ich die Schilderungen ihres jetzigen Lebens. Trotz allem, was passiert ist, scheint die unschuldige Evie die zu sein, die sich gefangen und verloren fühlt, die es nicht geschafft hat, sich ein glückliches, normales Leben aufzubauen, weil sie immer wieder die ungewisse Antwort auf die Frage quält, ob sie vielleicht dasselbe getan hätte, wenn sie an diesem Abend dabei gewesen wäre. Die Entwicklung von diesem nachdenklichen Mädchen zu einer pessimistischen, hoffnungslosen Erwachsenen war plausibel und schmerzhaft für mich als Leserin: Obwohl ich von Anfang an wusste, wie ihr jetziges Leben aussieht, habe ich mir dennoch ein glückliches Leben für Evie gewünscht.


"Arme Sasha. Armes Mädchen. Die Welt mästet sie mit der Vorstellung von Liebe. Wie dringend sie sie brauchen, und wie wenig die meisten von ihnen je bekommen werden. Die klebrig süßen Popsongs, die Kleider, die in den Katalogen mit Wörtern wie "Sonnenuntergang" und "Paris" beschrieben werden. Dann werden ihnen die Träumer mit brutaler Kraft weggenommen; die Hand, die an den Knöpfen der Jeans zerrt, dass niemand hinsieht, wenn der Mann im Bus seine Freundin anbrüllt." Seite 151


Mein Fazit

Ein in wundervollem, detailreichem Schreibstil erzählter Coming-of-Age-Roman, der die Gedankenwelt und Probleme eines heranwachsenden Mädchens treffend und eindringlich beschreibt und zeigt, wie schnell ein von Langeweile und dem Gefühl der Bedeutungslosigkeit gequälter Mensch in die Fänge einer sektenartigen Gruppe geraten kann.

Meine Empfehlung: Für alle, die Metaphern, Details und tiefgründige Einblicke in die menschliche Psyche lieben.

Bewertung:

Idee: 5 Sterne
Ausführung: 4,5 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne
Personen: 4 Sterne
Hauptperson: 5 Sterne ♥
Spannung: 3 Sterne
Bringt zum Nachdenken: 5 Sterne ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀,5

Diese Buch bekommt von mir 4,5 Sterne, die ich gerne aufrunde!