Typisch Nothomb!

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cellissima Avatar

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"Mama hat mich unter Schmerzen geboren, deshalb sollst Du mich unter Schmerzen töten."

"Das Schlimmste ist, dass ich, seit ich zwölfeinhalb bin, nichts mehr empfinde. Und wenn ich nichts sage, dann meine ich nichts. Meine fünf Sinne funktionieren sehr gut, ich kann hören, sehen, schmecken, riechen spüren, aber ich empfinde keines der Gefühle, die damit verknüpft sind. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, in welcher Hölle ich lebe."

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Sérieuse, die siebzehnjährige Tochter des Grafen Neville, bereitet ihren Eltern schon seit einigen Jahren Kopfzerbrechen: Sie empfindet einfach nichts mehr, hat bspw. kein Kälteempfinden mehr.
Sie ist besessen davon, dies wieder zu ändern. Sie geht hierfür immer öfter bis an ihre Grenzen und bringt sich dadurch nicht selten ins Lebensgefahr.
So will sie etwa eine Nacht im Wald verbringen, in der Hoffnung, dann zu frieren.
In dieser betreffenden Nacht wird sie dort von einer Wahrsagerin gefunden. Am nächsten Morgen ruft sie den Grafen an, berichtet von ihrem nächtlichen Fund und bittet ihn, seine Tochter abzuholen.
Ab diesem Zeitpunkt ist da nicht nur die Angst um Sérieuse, sondern auch die vor der in Kürze stattfindenden Gartenparty im Schlossgarten - denn die Wahrsagerin prophezeite ihm, dass er auf diesem Fest einen seiner Gäste töten wird.
Der Graf gibt zunächst nichts auf diese Prophezeiung, ist davon überzeugt, dass er niemals einen Menschen töten wird.
Doch im weiteren Verlauf denkt er, dass sein Schicksal unausweichlich ist, und zerbricht sich den Kopf darüber, wer wohl das beste Opfer wäre. Er findet einfach keinen Ausweg.
-Da kommt ihm Sérieuse zu Hilfe, die ihn inständig bittet, doch einfach sie zu töten, da sie endlich von den Qualen dieser Welt erlöst werden möchte und er sich dadurch als der beste Vater erweise ...

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"Töte mich" ist sowohl im Hinblick auf den Schreibstil als auch im Hinblick auf die eigentliche Geschichte typisch Amélie Nothomb.
Die Sprache weist in ihrer Reinheit und manchmal schon Schnörkellosigkeit eine Schönheit auf, die den Leser Satz für Satz genießen lassen, Atmosphäre, Kulisse, Handlung und Figuren sind wie so oft bei dieser Autorin fesselnd, spannend, dramatisch, anziehend und beängstigend, mystisch, oft gar verstörend.
Obwohl der Stein durch sie gleichsam erst ins Rollen gerät, ist die Wahrsagerin eher eine Randfigur; im Mittelpunkt steht diese Adelsfamilie, allen voran der Graf mit seiner jüngsten Tochter.
Das, was sie durchleben, auch das, was sie zu erwarten scheint, ist ungeheuerlich, macht den Leser sprach- und atemlos und jagt ihm kalte Schauer über den Rücken.
Das Schicksal scheint besiegelt zu sein, das Unheil schon längst seinen Lauf genommen zu haben.
Man ist lange überzeugt davon, dass Neville tatsächlich zum Mörder werden wird an diesem ganz bestimmten Tag. Wer wird wohl das Opfer sein? Alles deutet in der Tat auf die eigene Tochter hin ... Sérieuse scheint es zu gelingen, ihren Vater derart zu manipulieren, dass er ihrem Befehl gehorchen wird, wenngleich er immer wieder schwankt.
Am Ende scheint er davon besessen zu sein, sie zu töten, und Sérieuse scheint die Verzweifelte zu sein, wenn sie doch nicht sterben will, der Vater aber außer sich gerät und ihr sagt, dass sie sich das schon hätte vorher überlegen müssen, dass er sich nun dazu durchgerungen hätte, ihrem Wunsch nachzukommen, und hieran nicht mehr zu rütteln sei, sie nur noch wenige Stunden zu leben hätte.
Eine unheimliche, bestürzende Vorstellung. Man sieht das Ende schon vor sich.
-Doch Amélie Nothomb wäre nicht Amélie Nothomb, wenn sie nicht auch bei diesem Roman mit einer völlig verblüffenden Wendung und einem ebensolchen, überraschenden Ende aufwarten würde!

Fazit: Ein großartiger neuen Roman dieser von mir sehr geschätzten Autorin, den man nicht mehr aus der Hand legen kann und dessen knapp über hundert Seiten so viel mehr bieten als so manches Buch, das mehrere hundert Seiten dick ist ...

Amélie Nothomb beweist mit "Töte mich" einmal mehr ihre Meisterschaft!