Eine Reise durch die deutsche jüngste Geschichte

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jule1 Avatar

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Der Roman Torstraße 1 erzählt die Geschichte des jüdischen Kaufhauses Jonass und einigen Menschen, für die genau dieses Kaufhaus eine Bedeutung hat, eine Bedeutung, die sie ihr ganzes langes Leben begleitet. Er spielt im Berlin der 30iger Jahre kurz vor der Machtübergreifung durch Hitler.
Der Roman beginnt mit Vicky, die ein uneheliches Kind von Harry Grünberg, dem Sohn des Kaufhausbesitzers Heinrich Grünberg, erwartet. Sie ist nicht standesgemäß, dadurch wagt es Harry nie, sie seinen Eltern vorzustellen oder sie zu heiraten. Er verspricht es ihr allerdings immer wieder. Eine wichtige Schlüsselszene ist die Geburt von Vickys Tochter, Elsa. Elsa kommt in der Packstation des Kaufhauses zur Welt, Harry ist nicht da, dafür eine Hebamme und Wilhelm, ein Zimmermann, der am Bau des Kaufhauses mitgewirkt hat und der zur gleichen Zeit Vater eines kleinen Jungen, Berhard, wird. Vicky ist es sehr wichtig, dass die beiden Kinder nie den Kontakt zu einander verlieren und so wachsen Elsa und Bernhard fast wie Geschwister auf, werden nur immer wieder durch die Widrigkeiten des Lebens getrennt.
Anhand dieser beiden Protagonisten entwickelt Sybil Volks eine Geschichte der Deutschen von der Vorkriegszeit, vom braunen Deutschland, vom Krieg, vom aufgeteilten Berlin in unterschiedliche Sektoren, von der Teilung der Stadt durch die Mauer und zum Schluss vom Fall ebendieser. Sie erzählt uns Lesern ein interessantes, oft tief bewegendes, manchmal auch fröhliches Kommen und Gehen, ein Schicksalspanorama vieler Menschen, die miteinander in Beziehung stehen. Die sich verlieren, manchmal wieder finden, manchmal auch nicht. Es geht um Freundschaften, die ein Leben lang bestehen, die Krisen gemeistert haben und sie hinter sich lassen können. Alles wird menschlich und psychologisch sehr gut aufbereitet erzählt.
Die Autorin schafft es, ohne dass sie immer ins Detail geht, eine ganze vergangene Welt auferstehen zu lassen. Die Kriegsgeschehnisse lässt sie mehr oder weniger aus, das fand ich sehr gut, denn davon haben wir schon soviel gelesen. Dann kommt jedoch die Szene, in der hungrige Kinder schon einen großen Kessel über dem Feuer eines ausgebomten Hauses erwärmen und gerade einen großen braunen Hund, den sie an den Beinen und an der Schnauze mit einem Strick zusammengebunden haben, töten wollen, müssen. Diese Szene ist so eindringlich, dass sie mich Stunden nicht verlassen hat und alle Schrecken des Krieges vorstellbar werden lässt.
Ebenso eindringlich beschreibt sie die Einschränkungen der DDR Bürger durch den Bau der Mauer, die Trennung der Menschen, die sich lieben, die sich durch diese Mauer auch unterschiedlich entwickeln. Auch das alles wunderbar aufbereitet. Dieser Roman bietet sich an, ihn z. B auch gemeinsam in einem Lesekreis zu lesen, weil er so viele Dinge bereit hält, so viele tolle Menschen und ihre Schicksale, dass ich glaube, dass man sehr viel darüber sprechen könnte.