Lebenszeit

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Könnten Backsteine Geschichten erzählen, hätten Wände eine Stimme, würden Häuser ihre Memoiren schreiben – dann hätte das Haus in der Torstraße 1 Sybil Volks vielleicht aus erster Hand beim Dichten und Schreiben helfen können. So muss sich die Autorin zu den harten Fakten mit ihrer Fantasie behelfen und spinnt eine eigene Geschichte zu dem imposanten Gebäude zusammen.
Dabei gibt es in Berlin viele andere Bauten, die um vieles älter und geschichtsträchtiger sind. Das Jonass Kreditkaufhaus wurde erst 1929 erbaut. Am Tag seiner Eröffnung bringt die junge Angestellte Vicky im Postraum ihr uneheliches Kind zu Welt. Der Zufall stellt ihr Wilhelm zur Seite, der als Arbeiter am Bau des Kaufhauses beteiligt war. Während er hilft die kleine Elsa zu entbinden, bekommt zur gleichen Zeit seine Frau Martha den gemeinsamen Sohn Bernhard. Dieses Wunder ist der rote Faden des Romans. Elsas und Bernhards Leben ist von nun an miteinander verbunden und das Kaufhaus wird in ihrer beider Leben immer eine wichtige Rolle spielen. Das Gebäude in der Torstraße 1 hält die Menschen zusammen. Und die Zeiten werden für alle immer schwieriger.
Sybil Volks zeigt an ihren Figuren, wie sich politische und gesellschaftliche Verhältnisse auf Menschen auswirken können, zu welchen Entscheidungen sie gezwungen werden und wie wichtig es für viele Jahrzehnte war, Geheimnisse für sich zu behalten. Das Band der doppelten Geburt gibt den zwei Familien Halt. Und das Haus in der Torstraße 1 gibt ihnen Hoffnung. Sie durchleben die Machtübernahme der Nationalsozialisten, den 2. Weltkrieg, die Aufteilung Deutschlands unter den Alliierten, die Mauer quer durch Berlin und die Wiedervereinigung.
Es sind bekannte Motive, derer sich die Autorin annimmt. Die junge Dirne aus einfachen Verhältnissen, die vom jüdischen Sohn aus reichem Haus verführt, geschwängert, aber nicht geehelicht wird. Liebe zwischen US-Soldat und junger Deutschen, der Eingriff der Stasi in das Privatleben, Kommunenleben und Protest im Westen, Ducken und Klappe halten im Osten, Alkoholismus, Depression und Selbstmord auf beiden Seiten.
Es scheint, als wollte Sybil Volks möglichst viel Zeitkolorit in ihrem Buch unterbringen. Und so müssen die Figuren sich zuweilen Stereotypie nachsagen lassen. Besonders der dritten Generation fehlt die überzeugende Figurengestaltung. Sie erscheinen flach, ohne Tiefgang und eigene Stimme. Sie wirken wie typische Beispiele, gedacht als Vertreter eines bestimmten Zeitgefühls.
An einigen Stellen ist es als Leser schwer nachzuvollziehen, nach welchem Prinzip Ereignisse erzählt werden und andere nicht. Elsa und Bernhard berichten meistens über die gleichen Dinge aus ihrer jeweiligen Perspektive, für den Leser kann das einiges ins rechte, also rundum verständliche Licht rücken. Aber manchmal ist es einfach nur doppelt oder sogar mehrfach Erzähltes. Anderes wird nicht näher ausgeführt. Während Bernhards Versinken im Institut Seite um Seite füllt, werden Elsas wiederentdeckte Fotokünste wie nebenbei abgehandelt.
Der detailliert beschreibende Erzählstil eröffnet an vielen Stellen einen historischen Blick auf die jeweilige Zeit, doch darüber scheinen die Figuren selbst manchmal verloren zu gehen. Trotz der genauen Beschreibung bleibt der Eindruck zurück, dass den Charakteren die Tiefe fehlt. Damit kann sich der Leser nicht so recht mit den Figuren identifizieren und bleibt in Distanz zum Geschehen. Die Bedeutung des Jonass für die Familien wird unablässig beteuert, der Leser selbst kann diese Bedeutung durch das Erzählte schon verstehen, doch leider nicht nachempfinden. Die Torstraße 1 bleibt nach knapp 400 Seiten einfach ein Gebäude mit einer bewegten Vergangenheit.