Absolut außergewöhnlich!

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
kirstin Avatar

Von

Bereits der erste Satz des Romans "Treppe aus Papier" vermittelt einen umfänglichen Eindruck der Sprachgewandtheit und Wortgewalt des Autors Henrik Szantó - denn er ist fast vier Seiten lang. In diesem ersten Satz listet das Haus, in dem es in dem Buch geht, zahllose Erlebnisse, Gefühle und Eindrücke auf, die im Laufe der Jahrzehnte in seinen Mauern gemacht wurden. Die Erzählperspektive ist so ungewöhnlich wie kreativ - der gesamte Roman ist aus der Sicht des Hauses geschrieben. Es kennt keinen linearen Zeitablauf und so geschieht für das Haus immer alles gleichzeitig - während die Teenagerin Nele, die das Haus in unserer Gegenwart mit ihren Eltern bewohnt, mit ihrem Hund Balu die Treppe hinunterläuft, hüpft Ruth Sternheim, ein jüdisches Mädchen, dass zur NS-Zeit dort lebte, die Treppe hinauf. Auch die 90jährige Irma lebt in dem Haus, und zwar bereits seit ihrer Geburt. Irma kannte Ruth, durfte aber von Seiten ihrer Nazi-Eltern keinen Kontakt mit ihr pflegen. Als Nele Irma näher kennenlernt und mit ihr in Gespräche über die Zeit des Nationalsozialismus kommt, sehen sich beide mit ihrer Familiengeschichte konfrontiert, mit dem, was verdrängt wird und dem, was nicht ausgesprochen werden kann.
Dieses Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur und mahnt, dass auch junge Generationen nicht die Augen vor dem verschließen dürfen, was durch Ignoranz, Hass und Überlegenheitsdenken zur schlimmsten Katastrophe der deutschen Geschichte geführt hat. Gleichzeitig ist es aber auch voller Hoffnung, denn das Haus hat einen sehr liebevollen Blick auf die meisten seiner Bewohner und ihre Eigenheiten.
Obwohl der Autor literarisch anspruchsvoll schreibt, formt er seine Worte so flüssig und poetisch zu Sätzen, dass man beim Lesen in einen regelrechten Flow gerät. Mich hat dieser Roman tief beeindruckt.