Ein Haus erzählt die Geschichte seiner Bewohner und lässt die Nazi-Zeit lebendig werden

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So verschachtelt das Titelbild in die Ferne blicken lässt, so lässt uns dieser Roman die Vergangenheit erleben. Ein 100 Jahre altes Gebäude erzählt den Leserinnen und Lesern von seinen ehemaligen und aktuellen Bewohnern. Für das Haus gilt unser chronologisches Zeitverständnis nicht, es hat ein eher räumliches Gedächtnis. Dinge, die an ein und demselben Ort stattgefunden haben, erscheinen gleichzeitig. So mäandert die Erzählung immer wieder zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, wir erhalten Einblicke in Momentaufnahmen aus den verschiedenen Jahrzehnten.

Im 4. Stock, wo heute die 15-jährige Nele mit ihren Eltern und dem Hund Balu wohnt, lebte früher die jüdische Familie Sternheim mit ihrer Tochter Ruth. Irma, die alte Dame weiter unten im Haus, bewohnt noch immer die Zimmer, in denen sie zu Zeiten des 2. Weltkriegs mit ihrem nazitreuen Vater und der strengen Mutter aufwuchs. Nele kommt mit der mittlerweile 90-jährigen Irma in Kontakt und stellt daraufhin in ihrer eigenen Familie viele Fragen über die Vergangenheit. Es geht um Verantwortung und Mitläufertum sowie um unbequeme Wahrheiten, denen sich jede und jeder von uns auch heute noch stellen muss.

Die Idee mit dem erzählenden Gebäude ist gut gemacht und auch sprachlich sehr interessant umgesetzt. Was mir allerdings nicht so gut gefallen hat, waren die Dialoge von Nele und ihren Eltern. Sie wirkten sehr unecht und konstruiert. Warum sollten die Eltern so abweisend reagieren, wenn ihr Kind mehr über die Vergangenheit erfahren will? Das fand ich nicht nachvollziehbar.

Dass Nele in ihre Klassenkameradin verliebt ist, wirkte für mich auch ein bisschen zu sehr als Anbiederung an den Zeitgeist. Wobei ich sagen muss, dass diese Szenen der Annäherung sehr schön beschrieben sind. Aber diesen Erzählstrang hätte ich nicht gebraucht, dafür hätte ich gerne mehr über die Beziehung zu Irmi gelesen.

Das Farbkonzept des Titelbildes ist zwar sehr ansprechend, passt aber nicht ganz zu dem doch recht düsteren Inhalt.