Romantisiert

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mike nelson Avatar

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Romantisiert! Fast wirkt es wie ein Ausblenden der schrecklichen Realität des Zweiten Weltkrieges, wenn sich Valentine Goby in ihrem Roman "Über allen Bergen" für die Jahre 1942/43 in Naturbeschreibungen und der Erzählung des einfachen Lebens der Bergbewohner nahe des Mont Blanc erschöpft. Der 12-jährige Vadim, Sohn russischstämmiger Juden, wird zu seinem Schutz aus Paris in ein Bergdorf in Richtung der Grenze zur Schweiz verschickt und dort bei einer Familie untergebracht. Vadim heißt ab jetzt Vincent, besucht an seinem neuen Ort die Schule und findet sich relativ problemlos ein in seine neue Heimat, das Bergdorf. Vincent liebt den Klang der Wörter, die ihm als Farben erscheinen, auch Zahlen sind für ihn farbig. Vincent ist äußerst empfänglich für alles Sinnliche. Als Leser:innen dürfen wir die Umgegend, Schneelandschaften, Natur, das Dorfleben durch Vincents Augen betrachten: Zutiefst poetische Naturbeschreibungen (wie sie mir für einen 12-jährigen Jungen recht unwahrscheinlich erscheinen...). Vincents langsam erwachende Sexualität, hatte er doch bislang nie zuvor einen nackten Frauenkörper gesehen; eine Geburt steht bevor, zunächst die eines Kalbes, dann die der Mutter der Gastfamilie. Kurze Rückblenden, die die Leserschaft erinnern, dass Vincents ja aus Paris geflohen ist, weil die Gefahr für jüdisches Leben sich zunehmend zugespitzt hatte... Der Berg als die rettende Insel - wie einst der Berg Ararat zu Zeiten von Noah's Arche - während die Welt dabei ist, unterzugehen. Es bilden sich Freundschaften - der blinde, alte Martin mit seinem Hund Whisky und vor allem zu der zwei Jahre jüngeren Moinette, die ihm 'Land und Leute' zeigt. Vincent ist gefangen vom Erleben der Natur, vom Frühlingserwachen in den Bergen, während in 1943 immer noch der Zweite Weltkrieg tobt. Die Naturbetrachtungen sind kleine, sinnliche Wunderwerke. Aber was zählt die Schönheit der Natur, wenn das grausame Weltgeschehen tobt? Dient sie als Trost? Kann es Schönes im Grausamen geben? Bei all der Poesie, die diese Geschichte tatsächlich auch lesenswert macht, ist sie mir insgesamt um einiges zu weltabgewandt; auch gibt es kaum Entwicklungen bei den Protagonist:innen, wenig Konfliktäres, weder in Form von inneren Spannungen ('Wachstumsschmerz) oder auch in der Dorfgemeinschaft. Sprachlich bereitet der Roman viel Freude, von seiner Anlage her bleibt er unter seinen Möglichketen.