Märchenhaft

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
marialein Avatar

Von

Malcolm Polstead ist erst elf, aber schon sehr reif für sein Alter. In seiner Freizeit hilft er seinen Eltern bei der Arbeit im Gasthaus zur Forelle, paddelt mit seinem Kanu die Themse entlang oder hilft den Nonnen im Kloster auf der anderen Flussseite bei diversen Arbeiten. Pfiffig und an allem interessiert, entgeht ihm dabei fast nichts. So wird er auch schnell darauf aufmerksam, dass in dem Kloster nebenan ein Baby aufgenommen wurde, für das sich auffällig viele Menschen interessieren. Und die wenigsten scheinen es gut zu meinen - Auch wenn Malcolm nicht versteht, was da vor sich geht, ist ihm doch völlig klar, dass dieses Kind etwas Besonderes ist und er es unbedingt schützen muss.

Dann kommt eine große Flut, die stark an die Sintflut erinnert und nicht nur materiellen Schaden verursacht, sondern auch Kräfte und Geister freizugeben scheint, die bisher verborgen waren. Malcolm rettet sich, das Baby Lyra und eine Mitarbeiterin aus dem Gasthaus, Alice, auf sein Kanu und wird von der Flut nach Oxford und weiter getrieben. Die verschiedenen Herausforderungen, denen sich Malcolm und Alice stellen müssen, verlangen ihnen alles ab und schweißen sie in einer Art zusammen, die sie nie für möglich gehalten hätten.

"Über den wilden Fluss" hat den ganzen Charme von "His Dark Materials". Malcolms Welt ist der unseren einerseits sehr ähnlich, andererseits völlig anders, was vor allem daran liegt, dass die Menschen Dæmonen haben, die sie stets begleiten. Sie sind zwar physisch Tiere, die sich stets in der Nähe ihrer menschlichen Pendants aufhalten, eigentlich formen sie aber eine Einheit mit dem Menschen. Dies, wie so vieles andere in Pullmans Werk, ist äußerst symbolisch und intuitiv einleuchtend, auch wenn man vieles so ohne weiteres gar nicht "rational" richtig erklären könnte.

Durch diesen Kontrast zwischen dem, was man kennt und als selbstverständlich betrachtet, und dem, was nur ins Malcolms und Lyras Universum gilt, erhält der Roman eine ganz besondere Faszination. Die beiden jungen Leute in dem kleinen Kanu, die es mit dem übermächtigen GD, einem geisteskranken Physiker und natürlich den Naturgewalten aufnehmen müssen, wären in unserer Welt gar nicht glaubwürdig. Sie denken hervorragend mit, opfern sich füreinander auf, verstehen Zusammenhänge beeindruckend schnell und nehmen auch die verrücktesten Erlebnisse als relativ selbstverständlich hin - als würde es nichts nützen, sich zu viele Fragen zu stellen, es geht einfach darum, richtig zu handeln. Malcolm und Alice besitzen Qualitäten, um die sie Erwachsene in unserer Welt geradezu beneiden könnten.

Die Charaktere allgemein sind authentisch und - natürlich bis auf die "Bösen" - sehr sympathisch. Wenn hier von gut und böse die Rede ist, so handelt es sich doch um keinerlei Schwar-Weiß-Malerei, sondern auch auf der "guten" Seite gibt es Geheimnisse und Intrigen. Das komplexe Spiel zwischen mächtigen Institutionen, Vereinigungen, Geheimverbünden erinnert stark an die Zeit der Inquisition oder andere dunkle Kapitel unserer Zeitgeschichte - ist also so komplex wie die Realität.

Obwohl "Über den wilden Fluss" sehr umfangreich und voller Details ist, bleiben doch einige Fragen noch ungeklärt. Wer Lyras Abenteuer nicht kennt, ist vermutlich erst recht verwirrt. Doch der Roman verspricht ja nicht umsonst: "Fortsetzung folgt"...