Melancholische Wohlfühldecke mit kleineren Mängeln

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christian1977 Avatar

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London, 1940: Während immer häufiger deutsche Bomben auf die englische Hauptstadt fallen, entschließen sich Millie und Reginald dazu, ihre Tochter Beatrix in die sicheren USA zu schicken. Nach einer langen Schifffahrt warten in Boston die Gregorys auf die Elfjährige. Schnell lebt sich das Mädchen in seiner Gastfamilie ein, was nicht nur an der Herzlichkeit der Eltern, sondern vor allem auch an den Brüdern William und Gerald liegt - und natürlich an der Insel, die sich im Besitz der Gregorys befindet und Beatrix unvergessliche Sommer beschert...

"Und dahinter das Meer" ist der späte Debütroman der 1959 geborenen Laura Spence-Ash, der in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Claudia Feldmann bei mare erschienen ist. In den USA wurde der Roman zum Bestseller und in der Folge in zahlreiche Sprachen übersetzt, wie wir es im Klappentext erfahren. Und auch in Deutschland sollte der Erfolg gewiss sein, spricht "Und dahinter das Meer" doch eine breite Zielgruppe an.

Bereits das Cover, bei dem mare im Vergleich zum Original lediglich die Bomber entfernt hat, dürfte bei potenziellen Leser:innen einen gewissen Kaufreiz entfachen. Eine Frau mit dem Rücken zu den Betrachter:innen, die in die Ferne schaut? Dahinter steckt doch bestimmt eine leicht verdauliche Romanze mit gewissem Kitschfaktor...

Nun, ganz so einfach macht es "Und dahinter das Meer" der Leserschaft nicht. Wobei nicht verhehlt werden darf, dass auch die angesprochenen Käufer:innen nicht enttäuscht sein werden. Denn tatsächlich bewegt sich der Roman in romantischen Gefilden, wobei auch die Kitschgrenze das ein oder andere Mal überschritten wird. Was das Buch von den anderen Rückenfrauen allerdings unterscheidet, sind das hohe sprachliche Niveau und die Erzählkunst Spence-Ashs.

Einerseits gelingt es der Autorin, insbesondere die Insel und das dortige sommerliche unbeschwerte Leben plastisch und liebevoll zu beschreiben. Andererseits - und das ist das eigentlich große Plus des Romans - erweckt sie ihre Figuren so zum Leben, dass man das Gefühl bekommt, seine Freizeit mit ihnen zu verbringen. Dies erreicht Spence-Ash unter anderem mit zahlreichen Perspektivwechseln, manchmal gar innerhalb einer Seite. So ist beispielsweise Bea, wie sie von der Familie bald genannt wird, ihr Zwiespalt hervorragend anzumerken. Von 1940 bis 1945 wird sie einen Großteil ihres bisherigen Lebens in den Staaten bei dieser fremden Familie verbringen, die ihr bald doch näher als die eigene scheint. Darf so etwas überhaupt sein? Und darf sie mehr als schwesterliche Gefühle für den zwei Jahre älteren William entwickeln? Auch Beas Londoner Vater Reginald ist so eine herzerwärmende, authentische Figur. Er ist derjenige, der die wohl schwierigste Entscheidung seines Lebens getroffen und sein Kind verschickt hat. Sein stilles Leid, sein Schwanken zwischen Überzeugung und Zweifeln ist für die Leserschaft stets zu spüren.

Während man die Erzählweise inklusive zahlreicher Adjektive über weite Strecken als schön bezeichnen kann, setzt die Autorin ihre kleinen, überraschenden Nadelstiche eher in der Erzählstruktur. Da "Und dahinter das Meer" über seine gut 360 Seiten einen Zeitraum von insgesamt 37 Jahren behandelt, setzt sie immer wieder erzählerische Lücken und schildert manchmal erst im Nachhinein, manchmal sogar gar nicht, was den Figuren in der ausgelassenen Zeit widerfahren ist. So wirkt es weniger gefällig als die Sprache, wenn liebgewonnene Figuren plötzlich und unvermittelt verstorben sind - ein weiterer bemerkenswerter Kontrast zu den oben genannten Romanzen.

Früh wird hingegen klar, dass "Und dahinter das Meer" im Grunde ein Liebesroman ist. Denn natürlich sind nicht nur Beas Gefühle für William kompliziert - erschwerend hinzu kommt, dass auch der zwei Jahre jüngere Gerald sein Herz an die große Gastschwester verliert. Daraus könnte wie in Emily Brontës "Sturmhöhe" ein bitterböses und furchtbares Eifersuchtsdrama entstehen. Spence-Ash setzt hingegen überwiegend auf Harmonie, was ihr wiederum den Kitschvorwurf einbringen könnte.

Ohnehin kann man dem Buch vieles vorwerfen: Es ist teilweise vorhersehbar, es ist zuckersüß und es nervt mit amerikanischen Spielereien wie den Abkürzungen "Mr und Mrs G.". Nur dass mich all dies mit der Zeit kaum noch störte, weil Spence-Ash es mit ihren melancholischen Rückblicken immer wieder schaffte, mir eine Gänsehaut zu bescheren oder mich zu Tränen zu rühren. Fast so, als schaute man sich eine besonders gelungene Folge der 80er-Jahre-Serie "Wunderbare Jahre" an. Gleichzeitig rührte mich die endlose Empathie und Liebe der Autorin für ihre Figuren, denen sie irgendwann partout kein Leid mehr antun wollte.

Insgesamt ist "Und dahinter das Meer" so etwas wie eine Wohlfühldecke mit kleineren Mängeln in schweren Zeiten, ein warmherziger Liebes- und Familienroman, um den Zyniker:innen einen großen Bogen machen sollten. Alle anderen sollten aber einen Blick riskieren. Auch diejenigen, die sonst keine Bücher mit Rückenfrauen kaufen.