Zu viel gewollt

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Laura Spence-Ash erzählt in ihrem Debüt-Roman von Beatrix, die 1940 als 11-Jährige von ihren Eltern aus London zu einer Gastfamilie nach Boston geschickt wird, um vor den deutschen Bomben in Sicherheit zu sein. Trotz anfänglicher Ängste führt sie sich bei ihrer Gastfamilie, den Gregory, schnell wohl, baut eine enge Beziehung zur Mutter und entwickelt eine Sympathie für die Brüder Gregory und William. Während ihres 5-jährigen Aufenthaltes wird sie immer mehr zur Tochter und Schwester, welche sich alle gewünscht haben. Umso schwerer fällt die Rückkehr nach England zur zwischenzeitlich verwitweten Mutter, welche die Trennung emotional nicht verarbeitet hat und der verlorenen gemeinsamen Zeit hinterher trauert.

Ich habe mich auf dieses Buch gefreut und erwartet, mich ein wenig in dieses traurige Kapitel der Kinderverschickung hineinfinden zu können, zumal meine Großmutter ähnliches erlebt und oft davon erzählt hat. Aber ich wurde leider enttäuscht: Beas Aufenthalt in Boston und ihre beschaulichen Sommerferien auf der kleinen Insel sowie die erwachenden romantischen Avancen der Brüder haben mit ihrer Heile-Welt Atmosphäre die Themen Krieg, Todesangst und tragische Trennung von der eigenen Familie völlig überlagert. Stattdessen bricht die große Schwermut aus, als das Leben wieder seinen Gang gehen könnte, … Anders als erwartet, sind nicht die Trennung von den Eltern und die Schwierigkeiten des Wiederaufbaus der emotionalen Bindung zur eigenen Familie das Hauptthema. Zentrale Schlüsselszenen wie die Verabschiedung oder das Wiedersehen werden eigentlich völlig ausgelassen.

Außerdem wurde ich mit den Protagonisten nicht so ganz warm: Zum einen wird alles aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers berichtet, während eine Ich-Perspektive m.E. mehr Bindung zu Bea aufgebaut hätte. Zum anderen verliert sich die Autorin immer gerade dann in die Schilderung von Nebensächlichkeiten, wenn die Geschichte die Chance böte, sich etwas näher mit den Gedanken und Gefühlen der Personen auseinanderzusetzen. Auch die extreme Kürze der Kapitel riss mich immer wieder aus den geschilderten Situationen heraus und verhinderte eine tiefergehende Anteilnahme, denn mit jedem neuen Kapitel gab es einen Perspektivwechsel. Die große Zeitspanne der Erzählung und die Vielzahl der Akteure verhinderten eine intensivere Auseinandersetzung, auch wenn es offensichtlich die Intention war zu zeigen, wie diese Episode weiterhin im Bewusstsein der Protagonisten blieb und sie nie losließ, wäre hier etwas mehr Konzentration auf das Thema Verlust und Bindung hilfreich gewesen. Laura Spence-Ash war nach vielen Erzählungen mit dem neuen Format Roman offenbar noch etwas überfordert und wollte zu viel zugleich, was dann leider auf Kosten von Fokus, Intensität und Tiefe ging. Schade!