Dein Leben gegen meins

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dicketilla Avatar

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Marceline ist gerade mal 15 Jahre, als sie zusammen mit ihrem Vater deportiert wird, zur Nr. 78750 wird.
Der Vater nach Auschwitz, sie nach Birkenau, knapp 3 km, doch voller Ungewissheit unendlich voneinander entfernt. Sie erinnert sich an seine Worte:
“ Du wirst vielleicht zurückkommen, weil du jung bist, aber ich werde nicht zurückkommen.”

Heute ist Marceline 85, und schreibt 70 Jahre später einen Brief an ihren Vater.
Ein Mithäftling übergab ihr damals einen kleinen Zettel, unter Gefahren, von ihrem Vater.
Sie konnte sich nur noch an den Anfang “Mein liebes kleines Mädchen” erinnern, am Ende unterschrieben mit “Schloime”, die Zeilen dazwischen waren ihr entfallen. Quälend versucht sie sich zu erinnern, doch sie fallen ihr nicht ein.

“ Ich hatte so wenig Zeit gehabt, mir einen Vorrat von dir anzulegen.” ( S. 20 )

So schreibt sie über das Lager, den ständigen Kampf, Mengeles Blicken standzuhalten, nicht in der Gaskammer zu landen. Sie trägt die Kleidung der Toten, muss Gräben schaufeln, in denen die vergasten Körper verbrannt werden.
Ihr Weg ein Decrescendo des Schreckens.
Birkenau - Belsen - Raguhn - Vernichtungslager - Konzentrationslager - Fabrik.

“ Ich stand im Dienste des Todes. Ich war seine Kiste gewesen. Dann seine Hacke.”
“Ich hatte jeden Bezugspunkt verloren. Es war notwendig, dass das Gedächtnis zerbrach, sonst hätte ich nicht leben können.” ( S. 29 )

Sie schreibt aber auch über die Zeit danach, dieser an Gedächtnisschwund leidenden, antisemitischen Nachkriegszeit, wie sie weiterhin als Juden beschimpft, gemieden, ihnen keiner Glauben schenken wollte, ihre Erinnerungen mit Verleumdung abstraften. Die Familie hätte lieber den Vater heimkommen gesehen.
Froh war den Namen Rozenberg durch Loridan ersetzen zu können, nicht mehr so leicht erkennbar war.

“ Überleben macht einen die Tränen der anderen unerträglich. Man könnte darin ertrinken.” ( S.33 )

Das Buch umfasst nur 110 Seiten, jedoch umfassen sie ein ganzes Leben, ein Leben, dass niemals wieder so unbeschwert, wie es in ihrer Kindheit war, sein würde.
Über die nicht endend wollenden Liebe zum Vater, die Frage, was wäre wenn.
Mich hat, trotz der grausamen Schilderungen des Lagerlebens, mehr die Zeit danach erschüttert.
Marceline Loridan-Ivens klagt nicht an, sie erzählt, doch was sie zu sagen hat, erreicht uns schmerzhaft. Sie anfangs noch immer auf dem Boden schlief, ein Hotelzimmer mit Dusche nicht betreten kann, dünn bleibt, um gedanklich nicht ins Gas zu müssen. Keine Kinder wollte, da diese zuerst in Gas geschickt wurden.
Wie hält ein Mensch das aus, wie kann er die Ausgrenzung weiterhin ertragen, sich am Ende fragt, es besser gewesen wäre nicht aus Birkenau zurückgekehrt zu sein.
Man muss öfter inne halten beim Lesen der Geschichte, den Atem anhalten, die Tränen unterdrücken.

Ich danke Marceline Loridan-Ivens für dieses Zeitzeugnis, uns wieder erinnert, an die vielen Toten, und an die Überlebenden, die noch immer den Tot in sich tragen müssen.

“ Wenn sie wüssten, alle, wie sie da sind, dass das Lager ständig in uns ist.
Wir alle haben es im Kopf bis in den Tod.” ( S.106 )