Ergreifernder Brief an den Vater

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marionhh Avatar

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Als 15jährige wird Marceline 1943 zusammen mit ihrem Vater von den Nazis verhaftet und im März 1944 deportiert, er nach Auschwitz, sie nach Birkenau. Sie hat überlebt, verliert aber ihren geliebten Vater und noch viele weitere Angehörige im KZ. Ein Leben lang quält sie die Frage, was wohl in dem kleinen Brief stand, den er ihr hat zukommen lassen, ein kleines Lebens- und Liebeszeichen in all dem Horror von Tod und Elend. Doch genau wie sie viele der schrecklichen Erlebnisse verdrängt hat, so hat sie auch den Inhalt des Briefes vergessen. Ihr Leben lang vermisst sie ihren Vater, als einziger hätte er ihr Trauma, ihre Verzweiflung und ihre Todessehnsucht verstanden. Er wäre ein Seelenverwandter und nicht zuletzt immens wichtig für ihre Entwicklung als Mensch gewesen. Ihre Familie, besonders ihre Mutter, konnte ihr nicht über den Verlust hinweghelfen, von Marceline wurde erwartet zu vergessen und zu funktionieren.

Ein bewegender, erschütternder, zu Tränen rührender Brief an den geliebten, verlorenen Vater, eine Aufarbeitung des Schrecklichen, ein Zeugnis gegen das Vergessen und Verleugnen, und ein Erklärungsversuch, warum Marceline die geworden ist, die sie ist. Der Vater hat ihr bereits bei der Deportation prophezeit, dass sie überleben wird, weil sie jung und stark ist. Er hatte Recht, sie jedoch ist überzeugt, dass besser er überlebt hätte, denn die Familie hätte besser einen Vater gebraucht als eine Schwester. Nachdem klar wird, dass der Vater nicht zurückkommen wird, zerbricht die Familie, ein Sohn und eine Tochter begehen Selbstmord, die Mutter verleugnet den Schrecken und heiratet erneut, sie kann ihre Kinder nicht trösten und zeigt keine Gefühle. Marceline selbst hadert ihr Leben lang mit ihrem Schicksal überlebt zu haben. Auch sie versucht, ihrem Leben ein Ende zu setzen, überlebt aber sowohl den Selbstmordversuch als auch diverse körperliche und seelische Krankheiten.

Bewundernswert und sehr berührend ist Marcelines Beschreibung, wie sie wieder den Weg zurück ins Leben findet, wie sie in ihrem zweiten Mann einen Partner findet, der gleichsam Vaterersatz, Inspiration, Förderer und Geliebter ist, und wie sie mit seiner Hilfe und mit ihrer Kunst das Erlebte verarbeitet. Sie schreibt unglaublich eindringlich und ergreifend, spricht ihren Vater in dem Brief immer wieder an, und obwohl sie weiß, dass er es niemals lesen wird, so ist sie doch überzeugt, dass er bei ihr ist. Interessant ist die immer wiederkehrende Zwiespältigkeit ihres Charakters, zwischen ihrer Todessehnsucht und ihrem Lebenswillen, zwischen der Tatsache, dass sie weiß, dass der Vater tot ist, sie aber trotzdem in den Dialog mit ihm tritt. Sie verdrängt jahrelang ihre Erlebnisse, spricht nicht darüber und wüsste auch nicht mit wem, obwohl sie die Nummer auf ihrem Arm immer daran erinnert.

Das Schreiben des Briefes in ihrem reifen Alter hilft ihr nun, das Erlebte zu verarbeiten. Sich vorzustellen, was für ein Mann der Vater gewesen wäre, wie er sie erzogen hätte, hält die Erinnerung an ihn aufrecht, sie holt so die Reibereien mit ihm als Jugendliche und die verlorene Jugend nach. Aber Marceline klagt auch an, das Land Frankreich und die Menschen, die den Schrecken verleugnet oder beschönigt haben, und dass den Zurückgekommenen damals nicht besser geholfen wurde, sich wieder in der Welt zurecht zu finden. Trotz alldem hat sie akzeptiert, dass das KZ Teil ihrer Geschichte ist, dass sie überlebt und ihr Vater es so gewollt hat.

Fazit: Als geschichtsinteressierter Mensch sollte man dieses Buch gelesen haben. Nicht nur weil es wahnsinnig gut zu lesen ist, man legt es nicht mehr aus der Hand, weil es berührend und ein Zeitzeugnis ist, sondern weil es sich aus den ebenfalls bewegenden Berichten aus der Zeit hervorhebt, weil es persönlich und intim ist und vor allem weil man Marceline, diese kleine starke zähe Person, einfach nur bewundern muss. Sie heischt nicht nach Mitleid, sie setzt ihrem Vater ein sehr persönliches Denkmal und schließt gleichzeitig mit einem Kapitel ihres Lebens ab und versöhnt sich mit ihrem Schicksal.