Das Eis schmilzt

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arachnophobia Avatar

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Ich glaube, es ist ein ganz gutes Zeichen, wenn einen ein Buch auch nach dem Auslesen nicht ganz loslässt, man auch Tage danach immer noch über einzelne Szenen nachdenkt, anstatt frisch und fröhlich zur nächsten Lektüre überzugehen. „Und es schmilzt“ der belgischen Newcomerin Lize Spit hatte auf mich genau diesen Effekt.

Der Klappentext verrät erstmal nicht viel vom Inhalt, macht aber neugierig: Eine junge Frau kehrt nach Jahren der Abwesenheit in das Dorf zurück, in dem sie aufgewachsen ist. Was ist vorgefallen, dass sie so lange den Kontakt abgebrochen hat? Und vor allem: Warum – zur Hölle – hat sie einen riesigen Eisklotz im Gepäck?

Die Geschichte, die letztendlich zur Auflösung führt, entwickelt sich recht langsam, aber stetig und ich habe zu Beginn auch ein wenig gebraucht, um die drei verschiedenen Zeitebenen einzuordnen. Die Gegenwart spielt letztendlich nur an einem einzigen Tag, dem Tag der Rückkehr, und ist durch Uhrzeiten gekennzeichnet – hält die Protagonistin Eva aber nicht davon ab, auch hier gelegentlich in Erinnerungen an das Damals abzudriften. Die Vergangenheit spielt sich zum einen im verhängnisvollen Sommer 2002 ab; der Sommer, in dem Evas Kindheit ein Ende fand. Weitere, nicht chronologisch sortierte Schlüsselszenen aus Evas Kindheit und Jugend werden durch die Szenen beschreibende Überschriften gekennzeichnet. Ich glaube, ich muss das Buch auch ein zweites Mal lesen, um alle kleinen Hinweise und Details aus diesen einzelnen Kapiteln zu erfassen und mit der Geschichte in Verbindung zu bringen.

Die Vorabmeinungen zum Buch waren sich recht einig, dass die Geschichte ziemlich heftig sei und ich muss zugeben: Bis gut über die Hälfte konnte ich das noch nicht ganz nachvollziehen. Natürlich, Eva lebt nicht in einer heilen Welt, wie man sich vielleicht das Dorfleben vorstellen mag. Ihr Elternhaus ist, um es vorsichtig auszudrücken, keineswegs ideal. Liebe erfährt sie nicht von ihren Eltern, dafür saugt sie jede seltene Zuneigung, die ihr von anderen Dorfbewohnern entgegengebracht wird, wie ein Schwamm in sich auf – selbst, wenn sie dafür vorher Schmerzen in Kauf nehmen muss.

Zu Beginn las sich das Buch daher ein wenig wie eine Sozialstudie: Alkoholismus, Depressionen… das ganze Paket. Zwischendrin Eva und ihre Freunde Laurens und Pim, lange Jahre unzertrennlich, die selbsternannten Musketiere – zusammengeschweißt wohl vor allem durch aus Mangel an weiteren gleichaltrigen Kindern. Dann der Sommer 2002. Eva und ihre Freunde sind mittlerweile 14 Jahre alt und was doch relativ „normal“, wenn auch sprachlich ungeschönt und direkt, als Entdeckung der eigenen und fremden Sexualität in der beginnenden Pubertät beginnt, steigert sich irgendwann zu einer stetig abwärts führenden Spirale, aus der es am Ende kein gutes Entkommen mehr gibt. Es gibt, vor allem gegen Ende, Szenen, in denen es schwerfällt, locker drüber hinweg zu lesen, aber gleichzeitig kann man auch nicht wegsehen. Es ist fast wie ein Unfall, der in seiner Morbidität doch irgendwie fasziniert.

Am Schluss laufen letztendlich die Fäden von Vergangenheit und Gegenwart zusammen und auch der Eisblock erhält schließlich seine Daseinsberechtigung. Der Weg bis dorthin war bisweilen inhaltlich etwas steinig, aber durch den Schreibstil dennoch ein Genuss. Die vorkommenden vulgären Ausdrücke passten für meinen Geschmack gut in die Situation und vor allem zur jugendlichen Erzählerin. Weiterhin strotzen die Beschreibungen vor Bildern, die einen sogar manchmal schmunzeln lassen, bis einem dann doch das Lachen im Halse stecken bleibt. Der Erzählstil und die gute Beobachtung alltäglicher und besonderer Situationen sorgten dafür, dass ich auch dann gerne wieder zum Buch gegriffen habe, als inhaltlich doch gar nicht so viel passierte.

Für meinen Geschmack wird „Und es schmilzt“ dem darum aufgebauschten Hype definitiv gerecht und ich möchte eine absolute Leseempfehlung aussprechen. Und damit es nicht untergeht, möchte ich noch erwähnen, welch optisches Highlight das Buch ist! Ansprechendes Cover, das nichts von seinem erschreckenden Inhalt preisgibt, dazu die geprägten Buchstaben und – wovon ich sowieso bekennender Fan bin – der farbige Buchschnitt. Es fließt zwar nicht in meine Bewertung mit ein, aber das Buch ist in meinen Augen ein richtiges kleines Schmuckstück.