Ein Sumpf aus Beschränktheit und Gewalttätigkeit

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Die Icherzählerin Eva ist auf den Hof ihres Jugendfreundes Pit zur Einweihung seines neuen Melkcomputers und zugleich zum Gedenken an seinen verstorbenen Bruder Jan eingeladen. Eva stammt aus Bovenmoor, einem kleinen flämischen Polderdorf und ist wie die Autorin Lize Spit 1988 geboren. Ihr Bruder Jolan ist drei Jahre älter, Schwester Tesje drei Jahre jünger. Auf den Weg nach Bovenmoor nimmt Eva eine Eisplatte mit, die sie für diesen Zweck in der Kühltruhe der Nachbarn gefrieren ließ. In Rückblenden erinnert sie sich an die Ereignisse im Sommer 2002, als sie 13 war und mit Laurens, dem Schlachtersohn, und Pim, dem Bauernsohn, als die „Drei Musketiere“ unterwegs war. Weil in ihrem Jahrgang zu wenige Kinder geboren wurden, unterrichtete die Lehrerin die Dreierbande als Beiklasse zusammen mit eine älteren Klasse. Eva wächst in einer dysfunktionalen, desinteressierten Familie auf; die Eltern trinken und sind vermutlich psychisch krank. Die jüngere Schwester Tesje zeigt eine Reihe von beunruhigenden Zwängen, so dass Eva für ihre Eltern und ihre Schwester stets mit dem Schlimmsten rechnet, wenn sie ins Haus der Familie zurückkehrt. Nur in Häusern, in denen keine Katastrophen lauern, fühlt sie sich sicher. Monströse Ereignisse zogen Eva schon immer an; denn wer im Dorf etwas darstellen wollte, musste etwas zu erzählen haben. Pim und Laurens nehmen bei den Drei Musketieren die Rollen obsessiver Forscher ein, sie befassen sich zunächst theoretisch mit den Körpern der Mädchen aus ihrer Schule. Eva dient bei sonderbaren Spielen ihrer Freunde als Scriptgirl und Komplizin, sie agiert wie ein Junge, der irritierender Weise eine Menstruationsblutung bekommt. Mit den Veränderungen ihres Körpers bleibt sie alleingelassen und vertraut sie nur den Lesern des Romans an.

Nach nostalgischen Exkursen in die 90er Jahre mit gelungenen Bildern und Dialogen eskalieren die pubertären Streiche von Laurens, Pim und ihrer willigen Assistentin in einem Gewaltexzess, der mich in seinem Ausmaß ratlos zurückließ. Ob im Dorf fern von Hilfsangeboten niemand den psychischen Abstieg der Familie de Wolf und das Abgleiten der Drei Musketiere wahrgenommen haben will, habe ich mich gefragt. Bei drastischen Gewalt- und Vernachlässigungsszenen wie hier kann weniger oft mehr sein.

Als Shooting Star der Flämischen Literatur legt Lize Spit einen Roman über Pubertierende in der flämischen Provinz vor, dessen Gewaltszenen mich in ihrem Umfang abstießen. Die gleichmütige Reihung von Gewalt und Vernachlässigung wirkte als schier unglaublicher Sumpf aus Beschränktheit und Gewalttätigkeit in der belgischen Provinz. Die erwachsene Protagonistin protokolliert, ohne im Rückblick zu reflektieren, wie sie sich in die gewalttätigen Machenschaften ihrer Freunde verstricken konnte. Kaum zu glauben, dass so etwas zu Beginn unseres Jahrhunderts stattfinden konnte, aber die Schilderung wirkte auf mich wie ein Wettbewerb um die krasseste Pubertät und die hinterwäldlerischste Provinz. Wer bisher meinte, in einem engstirnigen Kaff eine schreckliche Kindheit verbracht zu haben, wird sich eines Besseres besinnen … Das Rätseln um Jans Tod, um den Zweck der Eisplatte und die über allem drohende Eskalation bauten zwar von Anfang an Spannung auf, aus der Feder einer inzwischen erwachsenen Erzählerfigur ist mir diese Reihung ohne Reifung der Figur jedoch zu schlicht gestrickt. Mir fehlt ein tieferer Einblick in Sein und Bewusstsein von Spits Figuren aus Evas Sicht. Um in den Hype um einen 500-Seiten-Erstlingsroman einzustimmen, genügen mir nüchtern wiedergegebene Gewaltszenen nicht. Spits Erstling wirkt leider nur wie ein Wallpaper zum Foto-Shooting für die Marke Lize Spit.