Evolution und Revolution

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kalligraphin Avatar

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„Dann schwiegen sie wieder. Nach einer ganzen Weile sagte Darwin: »Mir scheint, Sie [Marx] sind ein Idealist, obwohl ich natürlich weiß, dass Sie größten Wert darauf legen, die Welt auf materialistische Weise zu betrachten.“ (69%)

Darwin und Marx. Zwei große Vor-Denker, die im Jahr 1881 nur wenige Kilometer voneinander entfernt in England leben.
Ilona Jerger nimmt diese Tatsache als Anlass zu spekulieren, wie ein Kennenlernen der beiden Männer hätte ablaufen können. Was hätten die beiden sich zu sagen? Wie passen ihre Weltansichten zueinander? Wie unterschiedlich sind ihre Charaktere und Temperamente?

Im Roman haben Darwin und Marx, beide schon alt und krank, denselben Arzt. Dr. Beckett erzählt seinen Patienten vom jeweils anderen. Er findet, dass ihre Theorien und Ansichten gewisse Überschneidungen haben und dass die beiden sich kennenlernen sollten.

Die Story ist sehr dialoglastig. Darwin redet mit Dr. Beckett über Marx, die Religion und seine Krankheiten. Marx redet mit Dr. Beckett über Darwin, die Religion und seine Krankheiten. Zu einem Treffen der beiden Großen kommt es dann eher zufällig und ohne das Dazutun des Arztes. Und auch erst, nachdem gut die Hälfte des Romanes gelesen ist.

An dieses ruhige Erzähltempo und die wenigen Schauplätze muss man sich als Leser erst gewöhnen. Bis auf einige Ausnahmen findet das gesamte Geschehen in einem der beiden Krankenzimmer und in Dialogform statt.
Auch merkt man, dass Darwin und Marx sich in der Realität nie begegnet sind, denn die Autorin zögert das Treffen hinaus und nähert sich der Thematik nur sehr vorsichtig. Sie scheint den realen Personen nicht allzu viele Worte in den Mund legen zu wollen. Entsprechend unspektakulär gestaltet sich der vermeintliche Höhepunkt des Romans: Marx und Darwin beobachten sich gegenseitig bei ihrem Treffen, die Gespräche übernehmen zu großen Teilen andere Figuren.

So ist dann auch die interessanteste Figur die des Dr. Beckett. Ein sehr moderner und progressiver Arzt, der seiner Zeit weit voraus ist. Er stellt die Arzt-Patient-Beziehung in den Vordergrund, weiß um die Wirkung der seelischen Verfassung auch auf den Körper.
"Am Bett des gebeutelten Professors war ihm klargeworden, dass es zwischen Arzt und Patient einer Allianz bedurfte, nicht nur einer Diagnose." (22%)

„Und Marx stand still in Darwins Garten“ ist ein eigenartiges Buch, wie ich es bisher noch nicht kannte. Aber es ist auch sehr unterhaltsam und lehrreich. Und auf jeden Fall etwas Besonderes.