Nichts ist mehr, wie es war

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theresia626 Avatar

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Die US-Amerikanerin Carla Norton ist eine erfolgreiche Gerichtsjournalistin und hat mit „Und nachts die Angst“ (im Original „The Edge of Normal“) ihren ersten Thriller geschrieben, in dessen Mittelpunkt Reeve LeClaire steht. Er beginnt mit dem Prolog, der in Seattle, Washington vor sechs Jahren spielt. Durch einen Verkehrsunfall wird die fast 16jährige Regina Victoria LeClaire aus den Fängen ihres Peinigers Daryl Wayne Flint befreit. Er hat sie im Kofferraum seines Wagens eingesperrt und will sie gerade in ein abgelegenes Haus mit einem noch größeren Keller bringen, da passiert ein Unfall. Drei Jahre, zehn Monate und zwölf Tage Gefangenschaft liegen hinter ihr, in der sie „… vergewaltigt, geschlagen, verbrannt, gepeitscht, ausgehungert und fast ertränkt“ wurde. (S.51)

San Francisco, Kalifornien: Regina Victoria, die ihren Namen in Reeve geändert hat, ist zweiundzwanzig Jahre alt und besucht einmal in der Woche ihren Therapeuten Dr. Ezra Lerner. Sie hat inzwischen große Fortschritte gemacht, führt ein halbwegs normales Leben, lebt mit einer mexikanischen Rotknie-Vogelspinne zusammen und arbeitet in einem japanischen Restaurant. Von ihrem jahrelangen Martyrium sind die Narben an ihrem Körper und in ihrer Seele geblieben, die wohl niemals vollkommen heilen werden. Bei ihrem letzten Besuch erhält Dr. Lerner Besuch aus Jefferson City, Kalifornien. Dort gab es eine Pressekonferenz auf der der Sheriff die Befreiung der 13jährigen Tilly Cavanaugh bekannt gegeben hat. Sie war rein zufällig aus einem verschlossenen Keller befreit worden und ein Verdächtiger, Randy Vanderholt, wurde festgenommen. Da er kein vorbestrafter Sexualstraftäter ist, fiel er durch das Raster der Polizei. Ein Mann, der sich Duke nennt, ist gleichfalls bei der Pressekonferenz. Er ist in die Entführung verwickelt und macht sich Sorgen, was Tilly alles für Geheimnisse ausplaudern könnte, und er überlegt, was er mit Randy Vanderholt machen soll, da er verhaftet wurde. Dr. Lerner trifft sich in Jefferson City mit der stellvertretenden Bezirksstaatsanwältin Jackie Burke und den Eltern von Tilly. Sie möchten, dass eine frühere Patientin von Dr. Lerner mit ihrer Tochter spricht, weil sie ihr bei ihrem Verarbeitungsprozess besser helfen kann, denn Tilly ist schwer traumatisiert. Reeve gewinnt das Vertrauen von Tilly und kurze Zeit später vertraut diese ihr ein Geheimnis an und bringt damit beide in große Gefahr, denn der wirkliche Täter ist noch immer auf freiem Fuß. Er wartet nur darauf, dass irgendjemand einen Fehler macht, denn er hat sich einen gewaltigen Überwachungsapparat aufgebaut, der es ihm ermöglicht, alle Beteiligten auf Schritt und Tritt zu kontrollieren. "Observierungen sind für jemanden mit voyeuristischer Neigung nahezu das perfekte berufliche Fachgebiet, und Duke ist Experte für eine derartig spezielle Technologie, dass keiner außerhalb von Quantico .... begreift, was genau er macht." (S. 93) Als Reeve erfährt, dass noch zwei weitere Mädchen - Hannah Creighton und Abby Hill - vermisst werden, recherchiert sie auf eigene Faust und kommt dem Täter gefährlich nah.

„Und nachts die Angst“ von Carla Norton ist ein spannender, hochaktueller und außergewöhnlicher Thriller. Er ist in achtzig kurze Kapitel eingeteilt. Die Autorin setzt sich ernsthaft mit dem Thema Entführung von Minderjährigen und deren Ängsten auseinander sowie den psychologischen Folgen jahrelanger Freiheitsberaubung und massiver Nötigung. Sexualstraftäter verlangen kein Lösegeld, es gibt keine Verhandlungen über ihre Freilassung, ihr Preis ist die entführte Person (S.83). An Reeve LeClaire zeigt die Autorin, was mit den Opfern solcher Verbrechen passiert. Der Weg zurück in die Normalität ist schwer, wenn nicht unmöglich. Reeve hat sich jahrelang mit der Fachliteratur zum Thema beschäftigt, um der Natur des Bösen auf die Spur zu kommen und zu verstehen, wie Menschen zu Psychopathen und Soziopathen werden. Dies ist auch der Blickwinkel der Autorin, die keinen Whodunit mit unbekanntem Täter schreiben wollte, sondern die sich stattdessen sachlich, nicht voyeuristisch oder sensationslüstern mit dem Thema auseinandersetzt. Dabei ist ihr ein sehr empfehlenswerter Roman gelungen.