Die Schatten der Vergangenheit

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Nach Yaa Gyasis Roman „Heimkehren“ das zweite Buch der Saison, das sich mit der Thematik „Sklaverei“ beschäftigt, und ein unglaublich erfolgreiches Buch: sowohl der National Book Award 2016 als auch der Pulitzer Prize 2017 gingen an Colson Whiteheads „Underground Railroad“. Die Jury des Man Booker Prizes gestattete ihm zumindest einen Platz auf der Longlist. Und (weniger spektakulär) auch auf meiner persönlichen Topliste des Jahres 2017 nimmt der Roman ganz sicher einen der obersten Plätze ein.
Mit großer erzählerischer Kraft, eindrücklich und packend erzählt der Autor die Geschichte der jugendlichen Sklavin Cora, die Anfang des 19. Jahrhunderts auf einer Plantage in Georgia aufwächst. Ihre Großmutter Ajarry wurde einst von der afrikanischen Goldküste nach Amerika verschleppt, vergewaltigt, misshandelt, unzählige Male verkauft, bis sie schließlich auf der Randall-Farm landet, die sie bis zu ihrem Tod nicht mehr verlassen wird. Dort kommen sowohl ihre Tochter Mabel als auch die Enkelin Cora auf die Welt, inmitten einer Welt voll Gewalt und Elend. Beherrscht wird sie von den Randall-Brüdern, der eine eher nachlässig in seiner „Sklavenhaltung“, der andere umso grausamer in der Durchsetzung seiner Macht- und Besitzansprüche. Keiner der Beiden zweifelt diese auch nur im geringsten an, Schwarze sind Ware, Besitzgegenstände, die nach Belieben verschoben, eingesetzt oder auch gezüchtigt und getötet werden dürfen. Dieses Besitzdenken ist fest in den Köpfen der weißen Bevölkerung verankert. Nur wenige Abolitionisten oder religiöse „Eiferer“ verurteilen diese Praxis und werden von Befürwortern der Sklaverei fast genauso erbittert bekämpft und gehasst wie aufmüpfige oder geflohene Sklaven. Die Randall-Farm ist bekannt dafür, dass von hier – bis auf einmal – noch niemals ein Schwarzer verschwunden ist. Diese eine Ausnahme war Mabel, Coras Mutter, die auch der erfolgreiche und skrupellose Sklavenjäger Ridgeway nicht wieder einfangen konnte. Eine Niederlage, die ihn nachhaltig kränkt. Auch Cora, die als kleines Mädchen zurückgelassen wurde, ist nie darüber hinweggekommen. Auch sie denkt voller Hass an ihre flüchtige Mutter.
Nun erkrankt der „moderate“ Randall-Bruder und nach dessen Tod wird sein Besitz inklusive der Sklaven dem sadistischen Terrance zugesprochen. Als Caesar Cora zu gemeinsamer Flucht auffordert, gibt es deswegen für sie kein Zögern mehr. Und hier kommt die sagenhafte „Underground Railroad“ ins Spiel. Diese bezeichnet ein weitgespanntes Netzwerk an weißen Gegnern der Sklaverei, freien Schwarzen und entflohenen Sklaven, die von den Nordstaaten aus operierten und Unterstützung bei der Flucht, Unterschlupf und Weitertransport in den Norden gewährten – meist unter akuter Gefahr des eigenen Lebens. Entflohene Sklaven waren wie Freiwild, man konnte mit ihnen verfahren, wie einem beliebte, meist waren Kopfgelder ausgesetzt, ihnen zu helfen galt als Kapitalverbrechen. Selbst in den „freien“ Nordstaaten durften Sklavenjäger ihrem Geschäft nachgehen. Dass ihrer grausamen Jagd auch oft freie oder freigelassene Schwarze zum Opfer fliehen, ist spätestens seit „Twelve years a slave“, der 1853 erschienenen „Slave narrative“, also dem Erlebnisbericht, von Solomon Northup bekannt.
Auch Colson Whitehead hat sich solcher „Slave narratives“ als Quellenmaterial bedient, zum Beispiel jener von Harriet Ann Jacobs, die selbst sieben Jahre verborgen auf einem Dachboden lebte, bevor sie in die Freiheit fliehen konnte. Viele der grausamen und oft auch abartig sadistischen Praktiken, die Colson Whitehead im Umgang mit der „Ware Mensch“ auf so unsentimental-lakonische wie ergreifende Weise schildert, beruhen also auf Berichten Betroffener. Auch kleine Suchmeldungen, in denen Besitzer abhandengekommenes Eigentum zur Fahndung ausschrieben, sind in ihrem menschenverachtenden Wortlaut im Original eingestreut.
Aber Colson Whitehead verfolgt keinen rein realistischen Erzählansatz. Eine Portion Fantastik fließt dadurch hinein, dass der Autor das Hilfsnetzwerk der „Underground Railroad“, die zur Tarnung mit Begriffen wie „Zugführer“, „Passagier“, „Station“ etc. arbeitete, ganz wörtlich nimmt. So fliehen Cora und Caesar durch ein unterirdisches Eisenbahntunnelsystem gen Norden. Der Zustand der befördernden Züge variiert genauso wie der der Stationen, die sich in alten Steinbrüchen, unter verlassenen Scheunen etc. befinden. An jeder von ihnen taucht Cora in ein alternatives Amerika auf. Das gibt der Geschichte eine surreale Ebene, die nicht jeder Leser und Kritiker befürwortet. Darf man das? Wahrheit und Fiktion derart bis zur Unkenntlichkeit zu vermischen? Geschichtliche Tatsachen gar „fälschen“? Mir gefiel die Umsetzung und dieser Aspekt sehr gut, rückt es doch das Erzählte in den Bereich einer Allegorie – der Flucht, der Grausamkeit der Menschen, ihres Ausgeliefertsein, ihres Mut, ihrer Entschlossenheit. Auf keinen Fall verliert der Roman dadurch seine historische Glaubwürdigkeit. Auch wenn tatsächlich einige der geschilderten Zustände auf Coras Stationen in den Norden nicht historisch sind, sondern der Fantasie des Autors entsprangen, zum Beispiel die heimliche Sterilisation von Afroamerikanern in South Carolina und die medizinische Forschung an ihnen oder die systematische Vernichtung der Schwarzen in North Carolina. Dinge, die in Richtung Völkermord deuten und auf eine Allgemeingültigkeit abzielen, Anspielungen an andere Genozide. Eine Mahnung des Autors, sich zu erinnern, achtzugeben. Etwas , das wiederum direkt ins Heute reicht und eine ungeheure Aktualität erzielt.
Wir alle kennen die Entwicklungen (nicht nur) in den USA. Nach der Lektüre dieses Romans wird mit einer ungeheuren Wucht klar und deutlich, welch explosive Kraft in dieser so unzureichend aufgearbeiteten Geschichte liegt. Das über Generationen eingeimpfte Herrschaftsdenken der Weißen, die verdrängte Schuld und, das wird hier bei Colson Whitehead besonders deutlich, die unterschwellige, aber stets präsente Angst vor überfälliger Rache und sich Bahn brechendem, jahrhundertealtem Hass auf der einen Seite. Und die Demütigung, Zurücksetzung, Verfolgung, die auf der anderen Seite eben jenen Hass schüren können. Dass das ein brodelnder Kessel ist, der mit unterschiedlichen Deckeln unterschiedlich gut zu kontrollieren ist und immer wieder mal überkocht, das Anheizen der letzten Zeit aber ganz sicher nicht verträgt, leuchtet eigentlich ein. Dabei verschweigt der Autor aber nie auch die eigenen Verstrickungen der Afroamerikaner, es gibt bei ihm nie ein eindeutiges Schwarz-Weiß. Plantagenkitsch mit singenden Sklaven, die solidarisch beieinander stehen findet man hier nicht.
Dass Colson Whitehead mit diesem historischen Stoff die brandaktuelle Lage auf wirklich spannende, packende Weise und mit einer großartigen, rhythmischen Sprache derart deutlich macht und damit auch die unbedingte Notwendigkeit einer grundlegenden Aufarbeitung dieser dunklen Phase in der amerikanischen Geschichte, ist jeden der verliehenen Preise mehr als wert.