Ein unterirdischer Zug mit unbekanntem Ziel ...

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Als Coras Mutter Mabel aus der Sklaverei der Baumwollplantage in Georgia flieht, muss ihre 11-jährige Tochter aus der gemeinsamen Hütte in die „Hob" ziehen. Diese Hütte ist eine Notunterkunft auf der Farm, in der diejenigen gepflegt werden, die arbeitsunfähig oder wahnsinnig sind, nachdem sie gefoltert, gebrandmarkt und vergewaltigt wurden. Hinter der Maske von Versehrtheit und Einfältigkeit bietet die Hütte den versehrten Sklaven Schutz wie eine Festung. Cora ist die Enkelin einer Afrikanerin, die in die Sklaverei verkauft und dabei von ihrer Familie getrennt wurde. Cora ist noch ein Kind, aber sie kämpft mit allen Kräften um das Gemüsebeet ihrer Mutter, als eine andere Sklavin es sich unter den Nagel reißen will. Caesar will von der Farm fliehen und Cora mitnehmen, weil sie stark und mutig ist. Sie wird ihm Glück bringen, auch wenn sie sich noch nicht vorstellen kann, wie ihre Flucht klappen sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt sind geflüchtete Sklaven stets erkannt und zurückgebracht worden, auch noch viele Jahre nach einer Flucht. Zu Beginn ihrer gemeinsamen Flucht ist Cora circa 17 Jahre alt und war noch nie außerhalb der Farm der Brüder Rendall. Caesar war äußerst vorsichtig von einem Mitglied der Underground Railroad angesprochen worden, einer Bewegung, die Sklaven zur Flucht hilft. Mr. Fletcher hat Caesar als kritischen Geist entlarvt, weil er zu schlecht verborgen hat, dass er lesen kann – und das ist für einen Sklaven sein Todesurteil. Während in der Geschichte der Sklaverei die unterirdische Eisenbahnlinie ein Codewort war, ist Fletchers Eisenbahn eine reale Bahn in einem fantastischen Szenario. Wer sollte in der Realität unter harmlosen Farmen unterirdische Bahnhöfe und Schienenstränge angelegt haben und vor allem, wer sollte die Bauten finanziert haben? Für Cora erweist sich das System als Lotterie, weil sie selbst nicht steuern kann, wo die Eisenbahn sie wieder ausspuckt.

Während sich in Georgia der Kopfgeldjäger Ridgeway auf Coras Spuren setzt, gelangt sie von ihrer Station in South Carolina mitten in eine gigantische Flüchtlingsindustrie. Geflohene Sklaven leben in riesigen Wohnheimen, werden in einem eigenen Krankenhaus für Schwarze behandelt und arbeiten in Fabriken und Privathaushalten. Die Geflüchteten kennen nur die Sklaverei als Lebensform und hinterfragen die Motive nicht, die das Handeln ihrer „Protektoren“ bestimmt, die sie betreuen. Als Cora eine Arbeit im Naturkundemuseum antritt, fällt ihr sofort auf, dass sie in den ausgestellten Szenarien eine schwarze Marionette in einer weiß dominierten Geschichtsschreibung darstellen soll. Doch wer von einer Plantage stammt, hinterfragt im eigenen Interesse besser nichts. Während Cora wieder in den Zug steigt, um an einer anderen Stelle ausgespuckt zu werden, die sie nicht selbst gewählt hat, entfaltet Colson Whitehead in mehreren Nebenhandlungs-Strängen die Schicksale des Ehepaars Wells, das schon in zweiter Generation die Sklaverei bekämpft, von Caesar, Ridgeway und Royal.

Der Klappentext preist den erfolgreichen und preisgekrönten Roman an als Buch über das Schwarzsein früher und heute. Colin Whitehead betont, er hätte keinen historischen Roman über die Sklaverei verfasst. Vermutlich zeigt sich ein außergewöhnlicher Roman darin, dass er für jeden Leser eine persönliche Botschaft bereithält. Das phantastische/symbolische Element des unterirdischen Zugs wird vermutlich nicht alle Leser ansprechen. Zu seinen Figuren hält Whitehead sachliche Distanz, so dass ich für meinen Geschmack über Coras Anpassung an die Welt draußen viel zu wenig erfahren habe. Beeindruckend fand ich das Kapitel, in dem Coras Überlebensstrategien von der Plantage auf eine Helferindustrie mit rassistischen und faschistischen Zügen stoßen. Was nach einer Flucht kommt und was Helfer mit ihrem Handeln bezwecken, hat mich hier sehr nachdenklich gemacht. Stilistisch und aufgrund der differenzierten Charakterisierung der weiteren Figuren empfehle ich das Buch mit gutem Gewissen weiter. Die fantastischen Elemente und die Distanz des Autors zu seinen Figuren sehe ich allerdings auch als gute Gründe, den Roman nicht zu lesen.