Wenn man ein Ding war [...], bestimmte der Wert, den man besaß, die Möglichkeiten, die man hatte.

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sabatayn76 Avatar

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‚Wenn man ein Ding war - ein Karren, ein Pferd oder ein Sklave -, bestimmte der Wert, den man besaß, die Möglichkeiten, die man hatte.‘

Ajarry wird von Ouidah im heutigen Benin aus in die Neue Welt verschifft, unterwegs von ihrer Familie getrennt, mehrfach als Sklavin verkauft und weiterverkauft, vergewaltigt und misshandelt. Schließlich landet sie in Georgia, wo sie auf der Randall-Plantage schuftet und fünf Kinder zur Welt bringt, von denen nur eines überlebt: Mabel.

Mabel flüchtet viele Jahre später von der Plantage und lässt ihre einzige Tochter - Cora, die Hauptprotagonistin von Colson Whiteheads Roman - allein zurück.

So ist Cora im Alter von 10 oder 11 Jahren auf sich gestellt, muss auf der Baumwollplantage hart arbeiten, Vergewaltigungen, Auspeitschungen, Prügel, Benachteiligung und Isolation ohne jede Unterstützung ertragen.

Eines Tages tritt Caesar, ein anderer Sklave auf der Randall-Plantage, an Cora heran und fragt sie, ob sie mit ihm fliehen möchte. Sie lehnt ab, hat zu viel Angst vor den Konsequenzen eines gescheiterten Fluchtversuchs, aber schließlich stimmt sie doch zu, und so machen sich die beiden auf den Weg in den Norden.

Sie benutzen hierfür die Underground Railroad, ein Fluchthilfenetzwerk, das im 18. Jahrhundert gegründet wurde und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bestand, ein geheimes Netzwerk von Fluchtrouten, Treffpunkten, sicheren Unterkünften und Helfern, das Gegner der Sklaverei eingerichtet hatten, um Sklaven aus den Südstaaten der USA auf der Flucht in den Norden zu unterstützen:

‚Angesichts des Risikos für die Entflohenen wie ihre Helfer ist strikte Geheimhaltung existenziell. Die einzelnen Beteiligten kennen immer nur die nächsten Schritte und nie den ganzen Plan. Und es gibt einen Code: den der Eisenbahn. ‚Schaffner‘ (conductors) sorgen dafür, dass die ‚Passagiere‘, das ‚Gepäck‘ oder die ‚Pakete‘, wie die Geflohenen genannt werden, zum nächsten ‚Bahnhof‘, ins nächste ‚Depot‘ gelangen, wo der ‚Bahnhofsvorsteher‘ (station master) sie in seinem Haus aufnimmt und mit Kleidung versorgt. ‚Anteilseigner‘ (stockholder) geben Geld- oder Sachspenden, ‚Zugführer‘ (pilots) und ‚Agenten‘ wagen es, Plantagen aufzusuchen und mit den Sklaven deren Flucht zu planen.‘
(Julia Schröder: ‚Die Geschichte ist eine Schaufensterauslage. Zum historischen Hintergrund der ‚Underground Railroad‘‘)

Im Roman ‚Underground Railroad‘ wird der Ausdruck ‚Underground Railroad‘ wörtlich genommen. Diese ist nicht mehr nur ein Deckname für ein Fluchtnetzwerk, sondern eine echte Eisenbahn, die Cora von einem Ort zum anderen bringt:

‚Die Treppe führte auf einen kleinen Bahnsteig. Zu beiden Seiten öffneten sich die schwarzen Mündungen des riesigen Tunnels. Er musste an die sieben Meter hoch sein, die Wände waren in wechselndem Muster mit dunklen und hellen Steinen verkleidet. [...] Zwei Stahlschienen, mit Holzschwellen am Boden fixiert, liefen durch den sichtbaren Teil des Tunnels. Vermutlich verlief der Stahl von Süden nach Norden, ging von irgendeinem unvorstellbaren Ursprung aus und schoss irgendeiner wundersamen Endstation entgegen.‘

In anspruchsvoller, eindringlicher, aber schnörkelloser Sprache erzählt Whitehead seine Geschichte um Cora und die Underground Railroad. Dabei hat mich der Roman von der ersten Seite an in seinen Bann schlagen können, und Whiteheads Kniff, die Underground Railroad als echte Eisenbahn zum Leben zu erwecken, ist so gut gelungen, dass ich mir beim Lesen immer wieder aktiv ins Gedächtnis rufen musste, dass es diese Untergrundbahn nicht wirklich gegeben hat, dass es sich lediglich um einen Decknamen, eine Metapher gehandelt hat. Whitehead hat die Eisenbahn und die gesamte Flucht Coras jedoch so lebendig und lebensnah geschildert, die Handlungsorte so genau und überzeugend herausgearbeitet, dass man die dunklen Schächte, die man häufig über eine im Boden eingelassene Falltür erreicht, vor sich sieht, die Kühle spürt, die Geräusche hört.

Mit seinem Roman bietet Whitehead tiefe Einblicke in das Leben der Sklaven in den Südstaaten der USA, in die harte Arbeit, in den Alltag, in die Gemeinschaft innerhalb und außerhalb der Plantage. Er ermöglicht es aber auch, eine Seite kennenzulernen, die mir im Zusammenhang mit Sklaverei in den USA bislang unbekannt war: das durchorganisierte Fluchtnetzwerk und die zahlreichen Fluchthelfer, die ihr Leben dafür riskieren, Sklaven einen Weg in die Freiheit zu ebnen.

Whitehead hat die Flucht Coras detailgenau geschildert, so dass man als Leser hautnah dabei ist und einem das Herz bisweilen etwas schneller schlägt. Die sehr expliziten Beschreibungen von Gewalt, die stellenweise kaum zu ertragen sind, zeigen zudem, dass Sklaverei mehr ist als ein Leben in Unfreiheit, und führen dem Leser die Unmenschlichkeit und Entwürdigung deutlich (und bisweilen zu deutlich) vor Augen.

‚Underground Railroad‘ ist nicht nur ein hochaktueller, fesselnder Roman, sondern wurde auch - meiner Meinung nach vollkommen verdient - mit dem National Book Award 2016 und dem Pulitzer-Preis 2017 ausgezeichnet.

Der Roman steht zudem zusammen mit ‚4 3 2 1‘ von Paul Auster, ‚Das Ministerium des äußersten Glücks‘ von Arundhati Roy, ‚Exit West‘ von Mohsin Hamid u.a. auf der diesjährigen Longlist des Man Booker Prize, wobei ‚Underground Railroad‘ mein persönlicher Favorit ist. Die Shortlist wird am 13. September 2017 veröffentlicht, der Gewinner wird am 17. Oktober bekannt gegeben.

Ein weiteres aktuelles Buch über Sklaverei, das ich sehr empfehlen kann, ist ‚Heimkehren‘ von Yaa Gyasi.