Ein Buch für Denkanstöße, aber nicht für allumfassende Antworten

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nataliegoodman Avatar

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Wie Glennon Doyle ihren persönlichen Weg von der Selbstverleugnung zur Selbstverwirklichung gefunden hat, beschreibt sie in "Ungezähmt". Der Moment, der alles verändert, ist die erste Begegnung mit ihrer zukünftigen Frau Abby, zu der sie sich auf den ersten Blick hingezogen fühlt. Zu dem Zeitpunkt lebte die Autorin noch ein eher traditionelles Leben mit ihrem (fremdgehenden) Ehemann und den drei Kindern.

Das Narrativ ist daher nicht wirklich neu: Eine große Liebe sorgt dafür, dass sich die Autorin selbst findet, ihr Leben hinterfragt und erkennt, dass sie sich von den Meinungen anderer zu sehr beeinflussen lässt.

"Selbstlose Frauen ermöglichen, zwar eine effiziente Gesellschaft, aber keine, die schön ist, wahrhaftig oder gerecht." (S.87)

"Ungezähmt" lässt sich wunderbar leicht lesen, denn Glennon Doyle pflegt einen humorvollen Schreibstil, der von Metaphern geprägt ist, die vor allem ihre Gefühle greifbar machen. Die große Stärke der Autorin ist ihr Erzähltalent, das mitreißt und begeistert. Ihre Botschaften und Erkenntnisse verpackt Glennon Doyle in kurze Geschichten. Sie erzählt von persönlichen Erlebnissen, die verdeutlichen, wie sie zu der jeweiligen Erkenntnis oder Meinung gekommen ist. Oft verpackt sie ihre Weisheiten auch in Dialoge, sodass sie die Leser:innen nicht direkt anspricht und belehrt. So ein Gespräch liest sich auf jeden Fall lockerer und weniger aufdringlich, als wenn sie dieselbe Botschaft einfach nur im Fließtext mit direkter Ansprache untergebracht hätte.

Dadurch schafft es die Autorin ziemlich geschickt, dass ihr Buch nicht zu sehr nach Selbsthilfe-Ratgeber klingt. Als Leser:in kann man Episoden, mit denen man weniger zustimmt, leichter als Geschichten und weniger als Belehrung lesen. Dem pathetischen Tonfall typisch amerikanischer "selfhelp books" entkommt sie aber nicht ganz, immer mal wieder springen einem esoterisch-übertriebene Ratgeber-Formulierungen entgegen.

Glennon Doyle behandelt große Themen wie Feminismus, Rassismus, Glauben und Selbstbild aus ihrer persönlichen Perspektive. Religion nimmt dabei einen ziemlich großen Teil ein, schließlich ist sie gläubige Christin. Das war mir streckenweise zu viel. In anderen Passagen habe ich mich jedoch wiedergefunden, habe Probleme wiedererkannt und musste das ein oder andere Mal schlucken. Durch die große Bandbreite der Themen denke ich, dass fast jede Frau sich und ihre Zweifel, Probleme, Ängste in dem Buch wiederfindet. Die große Themenmenge und die kurzen Kapitel sorgen allerdings dafür, dass vieles an der Oberfläche bleibt. Man sollte das Buch also eher als Denkanstoß und nicht als allumfassende Ausführung betrachten.

Problematisch finde ich ihre Aussage , dass sie Menschen ohne Ängste und Depressionen "nicht besonders interessant" findet (S.296). Dieses Romantisieren psychischer Krankheiten muss endlich aufhören. Leiden ist nicht schön oder interessant, es schränkt viele Menschen unfassbar ein.

Bisschen merkwürdig auch, dass sie in einem Kapitel etwas melodramatisch erzählt, dass sie außer ihrer Schwester keine Freund:innen hat (und sie das als Introvertierte nicht problematisch findet), und in späteren Kapiteln dann z.B. von einem Anruf ihrer Freundin Martha berichtet. Leser:innen sollten nicht alles wortwörtlich nehmen.

Wer Denkanstöße für das eigene Leben sucht, aber nicht erwartet, alle Antworten zwischen zwei Buchdeckeln zu finden, sollte "Ungezähmt" definitiv lesen.