Über die Spießbürger (nicht nur) in Amerika wider den gesunden Menschenverstand

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ninchenpinchen Avatar

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Dies ist die Geschichte von der 70-jährigen Witwe Addie Moore und ihres – einen Häuserblock entfernten – Nachbarn Louis Waters, der ebenfalls Witwer ist. Beide leben in der fiktiven Kleinstadt Holt, im Bundesstaat Colorado.
Also, eines Nachmittags nimmt Addie all ihren Mut zusammen, geht zu Louis und unterbreitet ihm einen ganz ungewöhnlichen Vorschlag. Wie es wäre, wenn sie beide künftig die Nächte bei ihr verbringen, ohne Sex, denn darum ginge es nicht, es ginge darum, nachts nicht mehr einsam zu sein. Miteinander zu reden, Geschehnisse und Gefühle zu teilen und sicher manchmal auch etwas gemeinsam zu unternehmen. Jedenfalls kommen sie dahin und die Schilderungen, wie sie Picknicks und Zeltnächte in der freien, wilden Natur Amerikas verbringen, die sind so schön erzählt, dass man gleich dabei sein möchte und alles bildlich vor sich sieht. Als wenn man selbst mit Louis durch den kalten Fluss watet, die frische Luft und die fantastische Umgebung genießt und später das leckere Essen für alle aus dem Auto holt.

Irgendwann wird auch Addies Enkel ziemlich spontan bei ihr abgeladen. Und das auf unbestimmte Zeit. Was dann so alles passiert, möchte ich an dieser Stelle lieber nicht verraten.

Ich habe das Diogenes-Hörbuch gehört, eine ungekürzte Fassung, gelesen von dem grandiosen Ulrich Noethen. Er liest unaufdringlich, dennoch sehr akzentuiert, also in einer Qualität, wie man sie sich nur wünschen kann.

Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen und lässt einen nachdenklich und auch ein wenig sprach- und fassungslos zurück. Fassungslos, weil die Erpressung, die hier ein Familienmitglied auf widerwärtigste Weise und ohne Unterlass durchzusetzen versucht, auf Kosten aller Beteiligten, einfach nur ungeheuerlich ist. – Blinde Wut und purer Egoismus kennen wohl keine Grenzen.

Dies war das erste Mal, dass ich mit einem Werk von Kent Haruf in Berührung kam.
Man kann sich sehr gut in die Protagonisten, ihre Gefühle und das Leben in der Kleinstadt hineinversetzen. Auch Einblicke in die Vergangenheit von Addie (ihr ist das Schlimmste passiert, was einer Mutter passieren kann) und auch in die von Louis gehören dazu und verleihen der Geschichte Intensität und Glaubwürdigkeit. Es gibt nur ein halbes Happy End und dies ist leider das einzig Unbefriedigende an dieser Geschichte und man fragt sich: „War’s das jetzt schon?“ Schade. Dafür muss ich also einen Stern abziehen.