Buddenbrooks 2.0

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Unvermittelt und aus großer Distanz eines wolkengrauen Ostseehimmels fallen wir in einen kleinen Stadtstaat des Deutschen Kaiserreiches der Jahrhundertwende hinab. Wir irren durch enge Gassen und versteckte Hinterräume, haften uns an eilende Ratsdiener, nie-rastende Dienstmädchen und aufgebrachte Schülerkreise. Aus allen Richtungen strömen verschiedene Namen, diverse Zugehörigkeiten und diffuse Gerüchte. Schließlich (nach vielen, vielen Kapiteln) verengt sich die unübersichtliche Vielstimmigkeit, wir begegnen wiederkehrend den verschiedenen Mitgliedern des Haushaltes der angesehenen Familiendynastie Lindhorst. Über einen Zeitraum von 16 Jahren begleiten wir aus wechselnden Perspektiven Aufstieg und Fall, Glück und Unglück dieser großbürgerlichen Familie, die vor allem an Kontur gewinnt, wenn sie durch die vermeintliche Hintertür betrachtet wird: Durch die Augen des Hausmädchens Ida.
Es ist nicht nur der literarhistorische Ort Lübeck, der nicht namentlich genannt werden muss, um bei UNSEREINS an den literarischen Übervater Thomas Mann und seine BUDDENBROOKS zu denken. Das immense Figurenaufgebot, dessen verzweigte Beziehungen in episch ausholender Weise beschrieben werden, scheinen uns in ein zurückliegendes Erzähljahrhundert zu ziehen. Spätestens durch die Figur des „Thomy Mann“, ein Schulfreund der Lindhorstschen Kinder, der einen Schlüsselroman mit Anspielung auf eben diese Familie schreiben wird, erhält der Roman eine doppelbödige Intertextualität.

Hört sich alles kompliziert an? Ist es auch!

Der spektakulär langsame Romaneinstieg, die verwobene Figurenanordnung und auch der manieristisch wirkende Sprachduktus einer vergangenen Zeit, der von Mahlke durch Witz und Gegenwartsbegrifflichkeiten immer wieder gebrochen wird, all das hat mich zunächst komplett aufgesogen. Doch über die gesamte Länge des Romans konnte mich die übergeordnete Erzählinstanz, die ständig auf andere Figuren blickt und durch ausufernde Erzählschnörkel einen konstanten Handlungsstrang verweigert, nicht überzeugen.


Steht im Fokus der BUDDENBROOKS die gesellschaftliche Rolle und Selbstwahrnehmung eines dem Untergang geweihten hanseatischen Großbürgertums, scheint UNSEREINS die Fremdwahrnehmung und einen Perspektivwechsel auf diese Gesellschaftsschicht erzählen zu wollen. Doch dann hätte der Roman, wie im Klappentext angekündigt, bei den Köchinnen, Weißnäherinnen und Lohndienern bleiben müssen oder hätte stärker die Frauen der Familie Lindhorst, vor allem die Töchter Alma und Marthe, erzählen lassen müssen. Die für mich charakterlich stärkste Figur des Romans ist das Hausmädchen Ida. Durch privates Unglück steigt sie in ihrer Klasse ab, muss fortan als niedrige Angestellte arbeiten, ist immer und zu jeder Zeit im Dienst. Durch diese überzeugend gestaltete Figur, aus der auch die detailfreudige Recherchearbeit der Autorin hervorgeht, würde deutlicher eine Perspektive hervortreten, die bei Thomas Mann keine oder nur eine untergeordnete Rolle einnahm.

Eine Lektüre, die ich als gewinnbringend, aber auch als sehr anstrengend empfunden habe.

Vielen Dank an @vorablesen und @rowohltverlag für das Rezensionsexemplar!