Und was ist der Mensch anderes als sein Kredit?

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owenmeany Avatar

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Im Mikrokosmos des kleinsten Staats Deutschlands mit einem klar definierten Zeitrahmen von 1890 bis 1906 stellt die Deutsche Buchpreisträgerin Mahlke die Auswirkungen der Politik und Zeitumstände auf die Psychologie verschiedener Gesellschaftsschichten dar wie z. B. der Arbeiter, der Dienstboten, der gehobenen Mittelschicht und des Kulturbürgertums. Dafür hat die Autorin einen aussagekräftigen Titel gewählt: "Unsereins" - so spricht ein von sich sehr überzeugtes Milieu von sich selbst.

Im Fokus der einzelnen Kapitel stehen einzelne Personen, die sich dadurch ergebenden Perspektivwechsel erhellen das Bild der Situationen, wenn etwa ein junges Dienstmädchen wegen Schwangerschaft entlassen wird und anschließend die Herrschaft über das neu eingestellte ältere meckert. Die Vielzahl an Charakteren ergibt ein Soziogramm in politisch aufgewühlten Zeiten. Bismarck tritt zurück, Frauen wollen studieren, die Sozialdemokratie bildet sich heraus aus einer sich entwickelnden Arbeiterschaft. Einzelner Individuen wie des Schülers Georg bedient sie sich, um durch seine naiven, aber aufmerksamen Augen das Geschehen zu betrachten. Einem ähnlichen Zweck dient auch Isenhagens "geheimes Staatsarchiv".

Zu meinem Missfallen hat der Umschlagtitel mit dem Verweis auf die "Buddenbrooks" wieder einmal eine falsche Erwartungshaltung in mir erzeugt, denn so eine herausragende Rolle spielen dieser Roman und sein Verfasser eigentlich gar nicht. "Das Buch" kommt erst auf Seite 386 ins Spiel.

Mahlke fordert ihre Leser: ihre Bereitschaft, sich auf Subtilitäten einzulassen, ihr Gedächtnis, um kapitelüberspannend Zusammenhänge zu erkennen, und nicht zuletzt ein gewisses Geschichtsverständnis, um die persönlichen Gegebenheiten einzuordnen. Leicht kann man dabei den Faden verlieren ob dieser notwendigen Konzentrationsleistung, was wiederum zu Lasten des Lesevergnügens geht.

Innere Monologe durchziehen die äußeren Ereignisse und rekapitulieren die Verkettungen mit Vergangenem - das erinnert an die originelle rückwärts gewandte Erzählweise des "Archipels". Allerdings baut sie damit auch eine ganz spezielle Spannung auf, indem sie rätselhafte Ausgangslagen am Kapitelende auflöst. Manchmal bringt die Schriftstellerin aber auch durchaus Humor ins Spiel durch pikante Parallelitäten wie dem Butter schlagen in der Küche und der gleichzeitig erfolgenden manuellen ehelichen Pflichterfüllung im Schlafzimmer.

Empfehlen würde ich dieses Werk geübten, anspruchsvollen Literaturbegeisterten, die sich nicht nur an einer Geschichte ergötzen, sondern eine artifizielle Schreibweise zu schätzen wissen.