Eine herrausragende literatische Verurteilung der passiven Beobachter

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Rezension zu: Unsichtbar

Prämisse:

„Nein“
Mit diesem Wort beginnt das Martyrium eines namenslosen Jungen. Als er sich weigert seiner zukünftigen Nemesis während einer Matheklausur zu helfen, rächt sich dieser in dem er den Jungen in den folgenden Monaten auf mannigfaltige Weise terrorisiert, woran auch seine Mitschüler teilhaben - auf die eine oder die andere Weise. Während einige dem Jungen aktiv Schaden zufügen, schauen andere weg. Da dem Jungen niemand hilft, beginnt er sich in seine Fantasie zu flüchten, bis zu den Punkt an den er denkt er habe gelernt unsichtbar zu werden.

Bewertung:

Was direkt zu Beginn auffällt, ist die Anonymisierung der Figuren. Mit Ausnahme der Schwester, der Freundin und des Freundes des Jungen erhält keine der handelnden Figuren einen Namen, selbst der Mobber wird nur M M genannt, was vermutlich seine Initialen sind. Auch abseits davon sind die Figuren eher umrissen und simpel charakterisiert. Sie erhalten nur wenig konkrete Eigenschaften und werden größtenteils über ihre Rollen (Opfer, Täter, Rektorin, Lehrer etc.) reduziert. Doch während ich dies in anderen Büchern als einen eindeutigen Schwachpunkt deklariert und den Autoren geraten hätte sich erst weiterzubilden bevor er ein weiteres Buch schreibt, finde ich es hier geradezu genial. Denn aufgrund dieser Art der Charakterisierung erhält der Leser einen klareren Blick auf die Figurentypen in der Mobbingdynamik, nicht verfälscht durch Eigenschaften welche die Figuren individualisieren und zu dreidimensionalen Menschen machen, was die Rollen verblassen und verschwimmen lässt. Der Junge ist ein „normaler“ Jedermann.

„Ich bin nicht so groß wie Giraffe und nicht so klein wie Raul der Hobbit, nicht so dick wie Nacho Kugel und nicht so dünn wie Pedro Spaghetto … Stinknormal eben“

Das Einzige was ihn von seinen Mitschülern abhebt ist seine „Macke“ er ist ein Streber. Aber das genügt, denn im Verlauf der Geschichte entwickelt man großes Mitleid mit dem Jungen der niemals etwas böses getan hat und immer stärker unter den Mobbing leidet, bis er sich als letzten Ausweg in
seine Fantasie, unsichtbar zu sein, flieht. Auf diese Weise versucht er sich zu erklären warum ihm niemand hilft.

„Das erklärte alles: Es erklärte, dass mir nie jemand half. So schlecht konnten die Menschen nicht sein, unmöglich, es musste einen Grund geben, warum niemand sah, was ich durchmachte.“

Aber auch der Mobber der im Buch als M M und der Junge mit den neuneinhalb Fingern bezeichnet wird, wird näher beleuchtet. Das Buch erzählt auch aus seiner Perspektive, wodurch stellenweise eine interessante Paralellhandlung entsteht, welche die gegensätzlichen Emotionen des Opfer und des Täters hervorragend präsentiert. Zwar wird der Mobber durch die Ursprungsgeschichte des Verlusts seines Fingerglieds gegen Ende etwas vermenschlicht, doch das Buch macht keinen Hehl daraus, dass dies seine Taten niemals rechtfertigen kann.

„Im Grunde ist ihm gar nicht klar, warum er das tut: um die anderen zu beeindrucken, um den Status des Stärksten zu behalten, um zu kompensieren, wie schlecht er sich wegen des Sitzenbleibens fühlt, um zu kaschieren, wie neidisch er auf den Wespenjungen ist.“

Dies sind jedoch nicht die wichtigsten Perspektiven. Was dieses Buch von vergleichbaren Büchern separiert, ist die Behandlung und Verurteilung all jener, die das Mobbing sehen aber nicht unterbinden, es einfach geschehen lassen, sich selbst völlig im Klaren darüber, was für Konsequenzen ihr Handeln oder vielmehr Nicht – Handeln hat. Die Attacken des Mobbers finden vor aller Augen im Klassenzimmer, auf dem Schulhof, oder an öffentlichen Orten wie einem Park satt. „Unsichtbar“ macht deutlich, dass solche Personen ebenso schuldig sind wie der Mobber selbst, indem es den Begriff „Monster“ nicht ausschließlich auf den Mobber und seine Schergen bezieht sondern auch auf die Beobachter.

„Keiner sieht den Jungen, der es endlich geschafft hat, unsichtbar zu werden. Was er noch nicht weiß: Das war nicht sein Verdienst, in Wirklichkeit hat er es allen anderen zu verdanken, allen um in herum“.

Während „Unsichtbar“ den Schülern zumindest den Ansatz einer Absolution erteilt -

„Und er? Was passiert wenn er sich in diesen Krieg einmischt? Wo ist die Grenze zwischen helfen und sich selbst in Gefahr bringen? Vielleicht sind das zu große Fragen für jemanden, der noch so jung ist.“

- verbunden mit dem Appell die Schüler bei der Beantwortung dieser Fragen zu unterstützen, geht es völlig zurecht mit dem zu oft ignoranten Lehrkörper hart ins Gericht. Das Buch zeigt ungeschönt und direkt wie diese Pädagogen – denen die Reputation der Schule wichtiger ist als das Wohl ihrer Schüler, ihrer Schutzbefohlenen - denken. Ihre erste Reaktion auf einen Mobbingverdacht ist das leugnen: „So etwas gibt es an unserer Schule nicht“, sollten doch unwiderlegbare Beweise Vorhandensein, wird das Mobbing auf „harmlose“ Kinderspiele reduziert. Dieser Aspekt enthält jedoch auch meinen einzigen Kritikpunkt an dem Buch. Diese Botschaft ist stellenweise etwas zu plakativ präsentiert.

„Es ist seltsam und traurig, dass es in dieser Gesellschaft so viele Monster gibt, solche die etwas tun, und solche, die Zuschauen, solche die lachen, und solche, die so ein Video aufnehmen...“

Doch selbst dieser Punkt wird teilweise dadurch entkräftet, dass das Buch sich vornehmlich an Schulkinder richtet. Es ist völlig in Ordnung hier sicherzugehen, dass die Botschaft auch wirklich ankommt und dafür in Kauf zu nehmen, dass das Buch für erfahrene Leser etwas plakativ wirkt.
Es gibt im gesamten Buch nur eine einzige Figur, die das Leid des Jungen sucht und versucht ihm zu helfen: Seine Spanischlehrerin, die in ihrer Jugend ebenfalls Opfer von Mobbing wurde, versucht mit speziellen Unterrichtsmethoden die Klasse aufzurütteln. Diese namenslose Lehrerin ist die menschlichste Figur des Buches. Für sie ist das diese Angelegenheit persönlich, auch da sie ihre eigenen Erfahrungen noch nicht gänzlich verarbeiten konnte.
Auch strukturell und inhaltlich weiß „Unsichtbar“ zu überzeugen. Das Buch ist zum Einen in mehrere Teile gegliedert, wobei an einer Stelle der Übergang in einen der Teile in die Geschichte integriert ist (Seite 220). Ansonsten ist das Buch in sehr kurze Abschnitte gegliedert, die nur vereinzelt mit Kapitelüberschriften versehen sind. Bedingt dadurch fliegt man regelrecht durch die Seiten, was angesichts der Zielgruppe nur vorteilhaft ist. Unterstützt wird dies dadurch, dass die Perspektiven beständig wechseln, sowohl zwischen den Figuren, als auch der Perspektiven, selber.
Es wird sowohl aus der „Ich“ als auch der „Er“ Perspektive des Jungen erzählt, wenn die Nebenfiguren zu Wort kommen wird aus der Er – Perspektive erzählt. Zudem driftet die Perspektive stellenweise ins Auktoriale ab. Durch diesen Wechsel der Perspektiven fühlt man sich manchmal stark mit dem Jungen oder der Lehrerin verbunden und manchmal hat man den Eindruck über den
Geschehen zu stehen und einen objektiven Eindruck zu erhalten, was für dieses Buch die perfekte Wahl war.
Ein weiteres lobenswertes Stilmittel ist das Hervorheben der Bedeutung bestimmter wichtiger Worte, wie beispielsweise das NEIN des Jungen oder als die Lehrerin FEIGLING an die Tafel schreibt, durch die Methode, nur dieses Wort in großer Skalierung auf einer Seite abzudrucken.
Auch die allgemeine Struktur von „Unsichtbar“ ist auffällig. Die ersten sechsundachtzig Seiten erzählen was nach einem bestimmten Ereignis geschehen ist. Erst hiernach wird von der Zeit des Mobbings berichtet. Diese Art der Strukturierung hat für mich sowohl Vor - als auch Nachteile.
Nachteilig ist, dass darunter natürlich die Dramaturgie des Buches leidet, da man den Ausgang kennt. Ein Vorteil ist jedoch, dass „Unsichtbar“ auf diese Weise der Zielgruppe schon zu Beginn die Konsequenzen von Mobbing aufzeigt und der Leser im weiteren Verlauf unentwegt vor seinen geistigen Augen hat wo dies noch alles hinführen wird, was für die belehrende Ebene erneut sehr zuträglich ist.

Fazit:

„Unsichtbar“ ist ein sehr gutes und sehr wichtiges Buch über Mobbing, das auch jenen die tatenlos zuschauen ihren verdienten Anteil an der Schuld zuweist und unter dem Einsatz von Symbolik und zahlreicher Stilmittel aufzeigt was Mobbing anrichtet und was dabei in allen Beteiligten vorgeht.
Bis auf wenige kleinere Aspekte, welchen diesem Buch als Geschichte schaden, jedoch auf die Botschaft einzahlen, besitzt es meiner Ansicht nach keine Schwächen und sollte zu einer Pflichtlektüre an Schulen werden. Nach alldem was ich geschrieben habe. vergebe ich selbstverständlich eine Bewertung von:

5/5 Sternen