Mauer des Schweigens

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„Mobbing ist, wenn sich Mitschüler gegenüber einer Schülerin oder einem Schüler über längere Zeit aggressiv verhalten und sie bzw. ihn absichtlich körperlich und/ oder seelisch schädigen“ (Eloy Moreno, S. 333)

Puh, dieses Buch nimmt mich mit. Ich könnte aus meiner Berufspraxis als Lehrer viel dazu erzählen, aber ich werde mich zurückhalten und mich allein auf dieses Buch konzentrieren. Es ist ein Thema, das mitnimmt, das aufwühlt, das ergreift, das fassungslos macht. Eloy Moreno schafft es in seinem Buch „Unsichtbar“ das Mobbing-System sehr anschaulich offenzulegen. Es gibt den Täter, das Opfer, die Mitläufer, die Zuschauer und die Wegschauer. All das findet sich wieder. Und leider ist es sehr treffend, was der Autor beschreibt. Genau so funktioniert Mobbing, solange bis das Opfer endlich den Mut hat, seine Scham zu überwinden und Hilfe zu suchen, oder andere ihm zur Hilfe eilen. Und manchmal verläuft Mobbing sogar noch subtiler, als es in diesem Buch geschildert wird (aber das ist ein anderes Thema und ich halte mich zurück).

Zu Beginn des Buchs ist man als Leser erst einmal etwas orientierungslos. Man fragt sich fortlaufend, was dem Ich-Erzähler genau passiert ist. Und ich musste mich erst einmal zurechtfinden, wer dort alles erzählt, wie viele Figuren sprechen und in welcher Beziehung sie zu dem Ich-Erzähler stehen. Man betrachtet die Szenen von außen, ohne sie richtig einordnen zu können, weil man nicht weiß, was vorgefallen ist. Klar ist nur, dass der Erzähler ein Trauma erlebt hat, das erst nach und nach an die Oberfläche geholt werden muss. Und seine Psyche hat Schutzmechanismen ergriffen, die mich als Leser traurig zurückließen. Erschütternd!

Die Geschehnisse, die der namenlose Junge (sein Schicksal ist nur ein exemplarisches) dann nach und nach im Rückblick erzählt, sind bewegend. Man leidet mit ihm mit und möchte den vielen feigen Charakteren (den Monstern) fortwährend zurufen: „Tut doch etwas!“ Man spürt die Gefühlswelt des Ich-Erzählers hautnah. Die Anspannung, die Angst, die Scham, all das hat mich beim Lesen erfasst. Und gleichzeitig fragt man sich hilflos, warum er keine Hilfe sucht oder warum ihm niemand hilft.

Und es gibt viele Szenen, die man herausgreifen kann und problematisieren könnte. Reagiert die Psychologin auf das Erzählte angemessen? Handelt die Rektorin der Schule verantwortungsvoll? Problematisiert die Spanischlehrerin das Thema in der Klasse auf geeignete Art und Weise? Können die psycho-sozialen Probleme des Täters eine Rechtfertigung für sein Handeln sein? Wie lässt sich das Geschehene verhindern? Hierzu könnte man in meinen Augen viel sagen. Dieses Buch wäre also durchaus auch als Klassenlektüre geeignet, um das Thema anzusprechen (wenn nur der hohe Preis nicht wäre).

Trotzdem möchte ich noch Dinge anmerken, die mir noch für ein perfektes Buch gefehlt haben (und hier spreche ich aus eigener Erfahrung). So lässt der Autor (leider) Aspekte unerwähnt, die in meinen Augen auch wichtig gewesen wären: So fehlt mir z.B. die Elternperspektive. Und eine ganz zentrale Frage ist ja auch, wie geht man mit dem Täter und mit dem Opfer um, wenn Mobbing herauskommt? Und ich bin froh, dass es nach meiner Erfahrung auch noch andere Interventionsmöglichkeiten gibt, als die, die im Buch geschildert werden (aber das ist ein anderes Thema. Und eine Voraussetzung ist natürlich, dass die Mauer des Schweigens durchbrochen wird).

Fazit: Ein aufwühlendes Buch, das stark mitnimmt. Man leidet während der Lektüre mit dem Ich-Erzähler mit und ist fassungslos, wie das System Mobbing funktioniert und dass es überhaupt so lange funktioniert. Für alle, die sich mit dem Thema beschäftigen möchte, eine wertvolle Lektüre, insbesondere auch für Lehrkräfte und Schüler. Zwar hätten noch Aspekte wie die Elternperspektive und der anschließende Umgang mit Opfer und Täter Erwähnung finden können, aber ich ziehe dafür keinen Stern ab, weil das Buch auch so ein sehr gutes Buch bleibt, das wichtig ist. Knappe 5 Sterne!